Das Universitätssterben um 1800: Strukturelle Bedingungen und kontingente Faktoren
Inwiefern ist die Annahme überwiegend einheitlicher oder ähnlicher Ursachen für das Universitätssterben in den deutschen Ländern um 1800 angemessen? Dazu versammelt ein neu erschienener Band vier Perspektiven: die analytische Erschließung der Makro-Ebene der Hochschulentwicklung und -politik sowie dreierlei Arten von Falldarstellungen, nämlich zu um 1800 aufgelösten Universitäten, zu seinerzeit zwar gefährdeten, dann aber dennoch fortbestehenden Universitäten und zur Berliner Neugründung. Das Buch wurde gemeinsam von Reformationsgeschichtlicher Forschungsbibliothek Wittenberg und HoF realisiert.
In der Literatur werden fünf wesentliche Gründe für das Universitätssterben angeführt: mangelnde Leistungsfähigkeit der Universitäten; Verweigerung modernisierender Innovationen durch die Universitäten; Angebotsübersättigung mit der Folge einer Frequenzkrise; eingeschränkte Finanzierungsmöglichkeiten der Landesfürsten, schließlich die Kriegs- und Krisensituation Anfang des 19. Jahrhunderts. Jüngst, bei Elizabeth Harding, wurden diese verschiedenen Gründe in einem Erklärungsmodell „Ökonomisierung der Universitäten im 18. Jahrhundert“ zusammengeführt. Allerdings waren im Verlaufe des Vierteljahrhunderts die Umfeldsituationen sehr differenziert, die territorialen Bedingungen uneinheitlich und die internen Potenzen der Hochschulen unterschiedlich.
Marian Füssels liefert eine grundlegende Erörterung der allgemeinen Debatte über die ‚Aufhebung der Universitäten‘. Diese wird in mehreren Beiträgen ergänzt. Die napoleonische Hochschulpolitik ist auf zweierlei Weise ein Thema: über die französische Besetzung des Rheinlandes (bei Tanja Kilzer zur Alten Universität Köln) und über das kurzlebige Königreich Westfalen unter dem Napoleon-Bruder Jérôme (in Stefan Brüdermann zur Universität Rinteln und bei Christina Stehling zur Universität Marburg). Die Hochschulpolitik deutscher Großstaaten wird an den Beispielen Österreich (Sandra Haas), Preußen (Hans-Christof Kraus) und Bayern (Regina Meyer) verhandelt. Dass auch kleinere deutsche Länder hochschulpolitisch ambitioniert waren, lässt sich anhand Badens (Sandra Haas im Zusammenhang mit der Universität Freiburg) und Mecklenburgs (Hans-Uwe Lammel im Zusammenhang mit den Universitäten Bützow und Rostock) nachvollziehen.
Auf der Mikroebene einzelner Universitäten geht es vordergründig um acht Fälle. Darunter sind zwei Universitäten, die gegen zeitweilige Schließungsansinnen ihren Fortbestand sichern konnten (Freiburg und Marburg), während es bei den Universitäten Köln, Rinteln, Bamberg, Bützow, Helmstedt und Wittenberg jeweils auf die Aufhebung hinauslief. Daneben geht Marian Füssel intensiver auf die Göttinger Universität ein, und bei Hans-Christof Kraus kulminiert die preußische Universitätspolitik in der Krise um 1800 darin, dass die Berliner Universität gegründet wurde. Schließlich werden mehrere Konkurrenzgeschichten dargestellt: Köln versus Bonn, Marburg versus Gießen, Bamberg versus Würzburg, Bützow versus Rostock, Freiburg versus Heidelberg. So finden sich in den Texten unterm Strich 15 Universitäten in den Jahren um 1800 verhandelt.
Bedeutsam für die Entwicklungen war die Auffassung, dass es zu viele Universitäten im Reich gebe. Es waren nicht immer Qualitätsaspekte, die für oder gegen eine Universität ausschlugen. Für Wittenberg zum Beispiel müssten Pauschalurteile, die auf eine mangelnde akademische Leistungsfähigkeit der Universität abzielen, zurückgewiesen werden, da aufklärerische Trends und Konzepte in starkem Maße rezipiert wurden, wie Adrian Grave belegt. Indem die Modernisierungserfahrungen der Universität Bützow (1760–1789) nach 1789 in die Rostocker Universität eingeflossen sind, lasse sich durchaus annehmen, dass die Rostocker Universität ohne die vorgängige Anstalt in Bützow nicht überlebt hätte.
Die Universität Köln argumentierte in der Diskussion um ihre Zukunft weitestgehend mit ihrer Geschichte und ihren frühen Erfolgen. Die Universität Freiburg dagegen setzte, neben rechtlichen und konfessionellen Begründungen, vor allem auf ökonomische Argumente, mit denen sie ihre Nützlichkeit für Staat und Gemeinwesen unterstrich. Letzteres entsprach wohl eher dem Denkstil der Experten und Entscheider, die, wie Marian Füssel ausführt, im intellektuellen Klima der Spätaufklärung sozialisiert waren. Entsprechend orientierten sie sich unter anderem an Nützlichkeitsimperativen. Freiburg blieb, Köln wurde geschlossen.
Wolle man den komplexen Vorgang des Universitätssterbens analytisch in den Griff bekommen, so Marian Füssel, gelte es, das Wechselspiel der seinerzeitigen universitätskritischen Diskurse mit lokalen Entscheidungspraktiken in den Ministerien und vor Ort herauszuarbeiten. Dies leisten die Fallstudien, die den größten Teil des Bandes ausmachen.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Prof. Peer Pasternack, Email: peer.pasternack@hof.uni-halle.de
Originalpublikation:
Peer Pasternack / Matthias Meinhardt (Hg.): Das Universitätssterben um 1800. Strukturelle Bedingungen und kontingente Faktoren, BWV – Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2024, 209 S.
Weitere Informationen:
https://www.hof.uni-halle.de/web/dateien/pdf/Uni-Sterben_Inh-u-Einl.pdf (Inhaltverzeichnis und Leseprobe)