NS-Raubgut unter den Erwerbungen der Herzog August Bibliothek – Erkenntnisse und Restitutionen
Die Erforschung der Herkunft und der historischen Besitzverhältnisse der eigenen Bestände gehört zu den Kernaufgaben von Museen, Archiven und Bibliotheken. Seit vier Jahren untersucht die Herzog August Bibliothek (HAB), gefördert vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste, die Provenienzen ihrer Zugänge.
Auf Basis einer strukturierten Überprüfung der Provenienzen, also der Herkunftsgeschichte von Zugängen seit 1933, konnten wesentliche Erkenntnisse über NS-verfolgungsbedingt entzogene Objekte in den Sammlungen der HAB gewonnen werden. Im Mittelpunkt des seit Dezember 2022 laufenden Projekts „NS-Raubgut unter den Zugängen der Herzog August Bibliothek 1933–1969“ stand dabei zunächst die Auswertung der Zugangsbücher aus der NS-Zeit und den unmittelbaren Nachkriegsjahren. Die Überprüfung bezieht sich auf verdächtige Einträge, wie zum Beispiel von Lieferant*innen, die selbst NS-verfolgt waren oder nachweislich mit NS-Raubgut handelten. Hinzu kommen Einträge von Akteuren des verfolgungsbedingten Entzugs: Gestapo, Finanzämter, Zollstellen und weiteren „Drehscheiben“ von NS-Raubgut, wie etwa der Preußischen Staatsbibliothek. Eingehend untersucht werden darüber hinaus unter anderem Bücher mit geringem Kaufpreis oder Geschenke, Bände die mehr als fünf Jahre vor Erwerb erschienen sind, Judaica, Sozialistika, freimaurerisches Schrifttum sowie unikale Materialien. Darüber hinaus wird die Untersuchung der antiquarischen Zugänge im Hauptbestand abgeschlossen. Dringlich war auch die Prüfung zweier Sondersammlungsbestände: Die Künstlerbuchsammlung mit etwa 350 Objekten und die Sammlung Ernst Pepping mit etwa 2.300 Einzeldrucken.
Untersuchungsergebnisse
Bisher wurden 14.000 Nummern aus den Zugangsbüchern, 350 Bände Ars Librorum und Malerbücher, 909 Bände der Sammlung Pepping, 3.246 Bände mit sogenannten F-Signaturen und 2.041 Bände mit Numerus-Currens Signatur überprüft. Dabei weisen die Ars Librorum und Malerbücher vergleichsweise wenige Provenienzspuren auf. Dieser Umstand ist möglicherweise auf gezielte Manipulationen, wie Tilgungen, zurückzuführen. Die „Sammlung Pepping“ weißt eine deutlich erhöhte Frequenz von NS-Raubgut- und NS-Raubgut-Verdachtsfällen auf: Für die bisher gesichteten Bände 1,8% im Vergleich zu 0,1% NS-Raubgut- oder NS-Raubgut-Verdacht in den übrigen geprüften HAB-Beständen. Anhand der Zugangsbücher wird ersichtlich, dass die HAB auch bei Lieferant*innen gekauft hat, die nachweislich mit NS-Raubgut gehandelt haben und dort teils NS-Raubgut – auch noch weit nach der NS-Zeit – erworben hat. Insgesamt tragen durchschnittlich 80% der gesichteten Bände keine Provenienzspuren, sodass mit einer hohen Dunkelziffer von NS-Raubgut zu rechnen ist, das nicht als solches erkennbar ist.
Bisherige und laufende Restitutionen
Seit Projektbeginn im Dezember 2022 konnten insgesamt sieben Bände restituiert werden. Darunter zwei an die AK Bibliothek Wien für Sozialwissenschaften als Rechtsnachfolger der „Sozialwissenschaftlichen Studienbibliothek bei der Arbeiterkammer“ in Wien, ein Band ebenfalls an die AK Bibliothek Wien, da dort die Privatbibliothek des Juristen Anton Menger verwahrt wurde, zwei Bände an die Erb*innen des Mainzer Unternehmers Felix Ganz und dessen Tochter Olga Kreiß, geb. Ganz, ein Band an die Erbengemeinschaft nach Olga und Heinrich Spiero sowie ein Band an die Erbberechtigte nach Valeriu Marcu. Weitere sechs Restitutionen an vier verschiedene Erb*innen und Rechtsnachfolger*innen stehen noch aus.
Restitution an die Erbberechtigten nach Heinrich Spiero
Ein Ex Libris auf dem vorderen Buchspiegel des Buches „Luise. Ein Ländliches Gedicht In Drei Idyllen“ von Johann Heinrich Voß, lies es der Privatbibliothek von Heinrich (1876-1947) und Olga Spiero (1877-1960) zuordnen. Heinrich Spiero war der antisemitischen Verfolgung durch das NS-Regime ausgesetzt und wurde mehrfach verhaftet. Seit 1935 war er mit einem Schreib- und Publikationsverbot belegt. Die drohende Deportation von Heinrich und Olga Spiero konnte durch ihren nicht-jüdischen Schwiegersohn knapp verhindert werden. Heinrich und Olga Spiero überlebten die nationalsozialistische Herrschaft in Berlin. Der Umfang der Spieroschen Privatbibliothek wird auf etwa 20.000 Bände geschätzt. Durch das Berufsverbot in finanzielle Not geraten, musste Spiero über 250 Blätter seiner umfangreichen Autographensammlung verauktionieren. Ab 1938 sah sich Heinrich Spiero zudem gezwungen, große Teile seiner Privatbibliothek zu veräußern. Der Band mit dem Exlibris von Heinrich und Olga Spiero gelangte 1985 als Teil der Privatbibliothek des Komponisten und Hochschullehrers Ernst Pepping (1901–1981) in den Bestand der HAB.
Die Erbengemeinschaft nach Olga und Heinrich Spiero entschloss sich, wie auch die Erbengemeinschaft nach Felix Ganz und Olga Kreiß, geb. Ganz, nach der Restitution die ihren Vorfahren NS-verfolgungsbedingt entzogenen Drucke der HAB zu schenken. Wir bedanken uns für dieses Vertrauen und betrachten es als unsere Aufgabe, die Biografie der rechtmäßigen Eigentümer*innen und die Objektgeschichten in Erinnerung zu halten. Dazu zählt unter anderem die Dokumentation der Vorprovenienzen im Bibliothekskatalog.
Ein Blick in die Zukunft
Aufgrund der hohen Frequenz von Provenienzmerkmalen und des entsprechend deutlich höheren Rechercheaufwands innerhalb der Sammlung Pepping wurde eine Projektverlängerung bis zum 31.12.2025 beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste beantragt und auch bewilligt. Bis dahin soll die autoptische Prüfung, die Provenienzrecherche und Provenienzerschließung der Sammlung Pepping, Tiefenrecherchen zu NS-Raubgut-Verdachtsfällen und Erstellung entsprechender Einzelfalldossiers sowie die Restitutionen abgeschlossen werden.