Vorstellungen von Solidarität, Fürsorge und Verantwortung in den Erzählungen junger Grönländer
Für ein Projekt über Erinnerungen und Zukunftsvisionen haben junge Kalaallit (grönländische Inuit) Erzählungen über ihre Gemeinschaft verfasst. In einem Beitrag für die Fachzeitschrift „Études Inuit Studies“ beschreibt Projektleiterin Anne Chahine vom Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS), welche gemeinsamen Wünsche in den Erzählungen und ergänzenden Interviews mit den Autorinnen und Autoren zutage traten. Die Praxis des Geschichtenerzählens, so ihre Schlussfolgerung, kann als soziale Aktivität verstanden werden, die Konflikte schlichtet, Gräben in der Gesellschaft überwindet und Ideen für das künftige Zusammenleben in Kalaallit Nunaat (Grönland) entstehen lässt.
„Das Erzählen von Geschichten ist weder ein individuelles noch ein geradliniges Unterfangen. Es ist tief mit unserem sozialen Umfeld verwoben und trägt zum Aufbau von Beziehungen und zur Weitergabe von Wissen bei. Die Erzählungen junger Kalaallit können uns daher helfen zu verstehen, wie in Kalaallit Nunaat Beziehungen aufgebaut und Gemeinschaften geschaffen werden“, sagt Chahine. Die Grundlage ihrer Publikation bilden die „Zukunftserinnerungen“, die 28 Projekt-Teilnehmerinnen und -Teilnehmern für nachfolgende Generationen entworfen haben. Diese wurden auf der Website des Projektes „Future Memory Stories“ auf Englisch und Kalaallisut veröffentlicht.
Bei ihrer Analyse der Texte legte Chahine den Schwerpunkt auf das Geschichtenerzählen als soziale Aktivität. „Was mir an der allgemeinen Absicht der geschriebenen Geschichten am meisten auffiel, waren die Gesten der Solidarität gegenüber anderen Mitgliedern der Kalaallit-Gesellschaft und eine klare Positionierung der Geschichtenerzählerinnen und -erzähler: Sie stellten sich ihre jeweilige Rolle innerhalb ihrer Gesellschaft vor, formulierten gemeinsame Werte, drückten Fürsorge aus und übernahmen Verantwortung. Ich interpretiere das so, dass sie durch ihre Erzählpraxis Konflikte lösen und Risse in der Gesellschaft kitten wollen, indem sie sich einen zukünftigen Zustand der Beziehungen innerhalb der Kalaallit-Gemeinschaft vorstellen, der von Natur aus enger ist. “ Das Streben nach diesem Zustand der Nähe, der Handlung des „Sich-nahe-Kommens“, auf Kalaallisut „qanilaarneq“, ziehe sich durch die Erzählungen.
„Du bist nicht allein“
Ein Beispiel für das Streben von Nähe und Verbundenheit ist die Erzählung „I Want to Take Action – Iliuuseqarusuppunga“ („Ich will aktiv werden“). Darin reflektiert Arnannguaq Autzen über ihre eigene Rolle in der sich wandelnden Gesellschaft der Kalaallit. Sie stellt ihre Geschichte in den Kontext der Danifikation in den 1950er und 1960er Jahren, die zu vielen sozialen Problemen geführt habe. Autzen schreibt von ihrer Überzeugung, dass Veränderungen jetzt möglich seien, und will selbst aktiv werden. Sie wendet sich an ihre Landsleute mit einer klaren Botschaft: „Ich möchte die Stimme sein, die den Menschen hilft, auf den richtigen Weg zu kommen.“ Als Begleitung zum Textteil der Geschichte stellt Autzen ein Bild von sich selbst als kleines Kind zur Verfügung, das die Hand seiner Großmutter hält, und beschreibt es als Sinnbild ihrer eigenen Entwicklung, der Fürsorge der älteren Generationen für die jüngeren. An die Leserschaft gerichtet, schreibt die Autorin: „Ich möchte deine Hand nehmen und dir zeigen, dass du nicht allein bist.“
Ein solcher Wunsch findet sich in mehreren Erzählungen. So schreibt die Tätowiererin Paninnguaq Lind Jensen über die Probleme vieler Menschen in Kalaallit Nunaat, angesichts der Kolonialgeschichte ihre Identität als Dänen und Kalaallit zu finden. „Menschen nutzen Tätowierungen, um das Chaos zu beseitigen, das dies in ihrer Seele angerichtet hat. Sie beanspruchen ihre Identität als gemischte Person.“ Maannguaq Rosing hat ihrer Erzählung mit dem Titel „Qanilaarneq” (Nähe) – der Begriff, den Chahine als so prägend für die Wünsche junger Kalaallit sieht – ein Foto beigefügt, auf dem sie sich zu ihrer Nichte beugt und ihr einen Kuss auf den Kopf drückt – eine Art von Nähe, so Chahine, die eine Pause von allem anderen erfordert, was die Aufmerksamkeit sonst noch in Anspruch nimmt, eine Bereitschaft, sich ganz auf diesen Moment der Umarmung einzulassen.
Verständnisvoll, aber nicht konfliktscheu
„Meine ‚Zuhörpraktiken‘ basieren auf multimodalen Verknüpfungen, um Verbindungen zwischen den Erzählenden und ihren beigesteuerten Multimedia-Inhalten herzustellen. Beim Lesen dieser verschiedenen Modalitäten, also der Arten der Darstellung, wird eine netzartige Struktur sichtbar, die von tief verwurzelten Vorstellungen von Gemeinschaft geprägt ist“, erläutert Chahine. Geschichten dienten als Mittel, um die Notwendigkeit und Bereitschaft zur Überwindung drängender gesellschaftlicher Probleme zu vermitteln, indem man sich selbst als Akteur des Wandels einbringt und diese Konflikte aktiv vermittelt. So entstehe eine gemeinsame, verständnisvolle Denkweise, eine Bereitschaft, oft ignorierte Probleme anzugehen, und die Vorstellung einer Gemeinschaft, die mit einer Stimme spricht, während sie gleichzeitig die Komplexität der kolonialen Gegenwart anerkennt.
Der enge Austausch war Chahine auch bei ihrer eigenen Arbeit wichtig. So teilte sie ihre Analyse der Erzählungen und erste Entwürfe ihres akademischen Beitrags mit den Geschichtenerzählerinnen und -erzählern sowie anderen Kalaallit-Beraterinnen und -Beratern und entwickelte ihren Aufsatz auf der Basis dieser Gespräche weiter.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dr. Anne Chahine
anne.chahine@rifs-potsdam.de
Originalpublikation:
Chahine, A.S. (2023). Qanilaarneq (Closeness/Being Close) as a Desired State: Mediating Conflict Through Storytelling in Kalaallit Nunaat (Greenland). Études Inuit Studies, Volume 47, numéro 1-2, 2023, p. 65–91, https://doi.org/10.7202/1113384ar Veröffentlicht am 11. September 2024