SVR-Studie: Zugewanderte aus Afghanistan - Deutschland verbunden, aber Kontakte in Deutschland noch im Entstehen
In den letzten zehn Jahren und vor allem seit der Machtübernahme der Taliban 2021 haben viele Afghaninnen und Afghanen in Deutschland Schutz gesucht. Eine neue Studie des wissenschaftlichen Stabs des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) untersucht die Lebenssituation afghanischer Zuwanderinnen und Zuwanderer: Wie haben sie sich eingelebt und vor welchen Herausforderungen stehen sie? Wie sehen ihre sozialen Netzwerke in Deutschland aus und welche Verbindungen haben sie nach Afghanistan?
Die Zahl der Afghaninnen und Afghanen, die in Deutschland leben, hat im letzten Jahrzehnt und vor allem seit 2021 deutlich zugenommen. 2023 waren es rund 419.000 Personen, das sind rund 0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands. Die meisten von ihnen sind im Wege der Fluchtmigration nach Deutschland gekommen. Die Studie „Angekommen und transnational verbunden: Afghanische Zugewanderte in Deutschland“ des wissenschaftlichen Stabs des SVR zeigt auf Basis einer Online-Befragung von über 1.800 Personen: Afghanische Zugewanderte fühlen sich in Deutschland überwiegend willkommen und schon nach wenigen Jahren des Aufenthalts dem neuen Land stark verbunden. Zugleich stehen sie vor zahlreichen Herausforderungen, die sich vor allem daraus ergeben, dass sie erst seit wenigen Jahren in Deutschland leben.
Gerade die Fluchtmigration aus Afghanistan wird derzeit teilweise aus Anlass von (bisweilen dramatischen) Einzelfällen kontrovers diskutiert. Eine einseitig negative und pauschalisierende Darstellung wird aber der zugewanderten afghanischen Bevölkerung nicht gerecht, deren große Mehrheit sich um Integration bemüht und an die Gesetze hält. „Unsere Befragung zeugt von einer überwiegend positiven Haltung zu Deutschland“, so Karoline Popp, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim SVR und Co-Autorin der Studie. „Das ist eine Chance, die Politik und Zivilgesellschaft nutzen sollten, indem sie die afghanischen Zugewanderten bei praktischen Herausforderungen unterstützen und durch Integrationsmaßnahmen, die die soziale und zivilgesellschaftliche Einbindung fördern. Hierbei könnten auch afghanische Diaspora-Organisationen eine wichtige Rolle spielen, indem sie stärker auf afghanische Neuzugewanderte zugehen und in den Dialog mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen und der deutschen Politik treten.“
Jahrzehnte der Flucht haben die afghanische Diaspora über viele verschiedene Länder verstreut. Auch die Afghaninnen und Afghanen in Deutschland haben vielfach Familie und Freunde, die noch in Afghanistan oder in anderen Ländern leben. 85 Prozent der Befragten sagen, dass mindestens ein enges Familienmitglied – also Eltern, Kinder, Geschwister oder Ehepartner – in Afghanistan leben. 41 Prozent haben nahe Angehörige in weiteren Ländern, vor allem im Iran, in Pakistan, in der Türkei oder in einem anderen EU-Land. „Transnationale Beziehungen, also über Ländergrenzen hinweg, und insbesondere zu ihren Verwandten in Afghanistan sind für die meisten Befragten ein wichtiger Teil ihres Alltags“, erklärt Dr. Nils Friedrichs, Co-Autor der Studie.
Soziale Kontakte in Deutschland sind bei vielen noch weniger stark ausgeprägt. Je länger die Zugewanderten sich jedoch in Deutschland aufhalten, desto mehr Beziehungen bauen sie auch zu Deutschen auf. Ein weiterer zentraler Befund ist: Lokale und transnationale Verbindungen ergänzen sich. Wer beispielsweise viele Kontakte nach Afghanistan hat, hat dadurch nicht weniger Kontakte in Deutschland. Dazu passen die Ergebnisse, wenn man nach Zugehörigkeit fragt: „Eine deutliche Mehrheit – 63 Prozent – der Befragten fühlt sich sowohl Afghanistan als auch Deutschland stark zugehörig“, so Friedrichs.
Da sehr viele Befragte getrennt von engen Angehörigen leben, ist der Familiennachzug die mit Abstand wichtigste Herausforderung für die Befragten. „Angesichts der politischen, menschenrechtlichen und humanitären Lage in Afghanistan ist das nachvollziehbar“, sagt Karoline Popp, „hier könnte eine Aufstockung der Kapazitäten an deutschen Konsulaten die Verfahren beschleunigen.“ Die Zukunft des 2022 aufgelegten humanitären Bundesaufnahmeprogramms für Afghanistan ist indes ungewiss. „Ein vorzeitiges Ende des Programms, ohne dass die vorgesehenen Aufnahmezahlen auch nur annähernd erreicht sind, wäre ein problematisches Signal an die hier lebende afghanische Community, die noch nahe Angehörige im Herkunftsland hat“, ergänzt Dr. Friedrichs. Als weitere wichtige Herausforderungen nennen die Befragten Deutsch zu lernen, einen sicheren Aufenthaltstitel zu bekommen, eine Wohnung zu finden und die Suche nach einem Arbeitsplatz, um sich und ihre Familie versorgen zu können. Die Befragten berichteten dabei auch über negative Erfahrungen in Deutschland: Viele sehen sich von Diskriminierung betroffen, insbesondere bei der Wohnungssuche – was das Willkommens- und Zugehörigkeitsgefühl mindern kann.
Die Studie zeigt einen Zusammenhang zwischen relativer Armut und Teilhabe: Betroffene, die ihre eigene finanzielle Situation als prekär bewerten, fühlen sich häufiger diskriminiert, haben weniger Kontakte zu Deutschen, fühlen sich in Deutschland weniger willkommen und dem Land weniger zugehörig. Im Gegensatz dazu geht eine höhere wirtschaftliche Sicherheit auch mit einem höheren Zugehörigkeitsgefühl einher. Dies verweist auf die Bedeutung der Arbeitsmarktintegration als Teilhabe-Motor. „Gerade die kürzlich zugewanderten Afghaninnen und Afghanen sind vergleichsweise gut ausgebildet und bringen Berufserfahrung mit. Dies sollten Wirtschaft und Politik nutzen und ihre Anstrengungen im Bereich beruflicher Anerkennung für eine nachhaltige und qualifikationsangemessene Integration erhöhen“, sagt Dr. Jan Schneider, Leiter des Bereichs Forschung beim SVR.
Grundlage der Studie, die im Rahmen des seit 2022 laufenden Forschungsprojekts „Transnationale Netzwerke und zivilgesellschaftliche Aktivitäten im Kontext von Fluchtmigration: Die afghanischen und syrischen Communities in Deutschland“ entstanden ist, stellt eine zwischen November 2023 und April 2024 durchgeführte Online-Befragung von afghanischen Zugewanderten dar. Die Befragung beansprucht keine Repräsentativität für die in Deutschland lebenden Afghaninnen und Afghanen, stellt jedoch eine breite Basis dar: 1.891 Personen beantworteten Fragen zu ihren grenzüberschreitenden familiären Netzwerken, ihrem Zugehörigkeitsgefühl, ihrem Leben in Deutschland, Diskriminierungserfahrungen und ihren aktuellen Herausforderungen.
Zusammenfassungen der Studie sind auf Englisch, Dari und Paschto erhältlich.
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Über den Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Hans Vorländer (Vorsitzender), Prof. Dr. Birgit Leyendecker (Stellvertretende Vorsitzende), Prof. Dr. Havva Engin, Prof. Dr. Birgit Glorius, Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Winfried Kluth, Prof. Dr. Matthias Koenig, Prof. Sandra Lavenex, Ph.D., Prof. Panu Poutvaara, Ph.D.
Der wissenschaftliche Stab unterstützt den Sachverständigenrat bei der Erfüllung seiner Aufgaben und betreibt darüber hinaus eigenständige, anwendungsorientierte Forschung im Bereich Integration und Migration. Dabei folgt er unterschiedlichen disziplinären und methodischen Ansätzen. Die Forschungsergebnisse werden u. a. in Form von Studien, Expertisen und Policy Briefs veröffentlicht.
Weitere Informationen unter: www.svr-migration.de
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dr. Nils Friedrichs, Karoline Popp
Originalpublikation:
https://www.svr-migration.de/publikation/afghanische-zugewanderte-in-deutschland/