Physik von Krebs verstehen, Metastasen verhindern: Leopoldina Greve-Preis für Bahriye Aktas, Jochen Guck und Josef Käs
In der Krebstherapie ist der Umgang mit Metastasen eine große Herausforderung. Es ist wichtig zu verstehen, unter welchen Bedingungen Krebs Metastasen ausbildet. Die Biophysik kann dafür wertvolle Erkenntnisse liefern, denn auch Krebs unterliegt den Gesetzen der Physik. Für ihre grundlegenden Erkenntnisse über die Beweglichkeit von Tumorzellen erhalten die Medizinerin Prof. Dr. Bahriye Aktas und die Biophysiker Prof. Dr. Jochen Guck und Prof. Dr. Josef Käs den Greve-Preis der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina 2024. Die mit 250.000 Euro dotierte Auszeichnung wird von der Hamburgischen Stiftung für Wissenschaften, Entwicklung und Kultur Helmut und Hannelore Greve gestiftet.
Als Biophysiker sind Prof. Dr. Josef Käs von der Universität Leipzig und Prof. Dr. Jochen Guck vom Max-Planck-Institut für die Physik des Lichts in Erlangen weltweit führende Wissenschaftler auf dem Gebiet der Krebs-Physik. Mit ihren teils gemeinsamen Forschungsarbeiten untersuchten sie die physikalischen Eigenschaften von Zellen in der Interaktion mit ihrem umgebenden Gewebe. Sie konnten nachweisen, wie Tumorzellen zwischen festem, steifem und flüssigem, weichem Zustand aktiv wechseln, um sich durch das dichte Gewebe des menschlichen Körpers zu bewegen und Metastasen zu bilden. Diese Erkenntnis sorgte für einen Paradigmenwechsel in der Sicht auf Krebszellen und motivierte die Zusammenarbeit mit der Medizinerin Prof. Dr. Bahriye Aktas vom Universitätsklinikum Leipzig. Aktas ermöglichte die Untersuchung von menschlichen Tumorproben direkt nach der Operation und damit die Lebendzellmikroskopie der aktiven Verformung von Krebszellen. Aufbauend auf den Arbeiten ihres Vorgängers Prof. Dr. Michael Höckel brachte sie die Frage ein, welche Grenzen Krebszellen im Körper erfahren. „Bahriye Aktas, Jochen Guck und Josef Käs zeigen auf beeindruckende Weise, wie interdisziplinäre Grundlagenforschung das Verständnis von Krebserkrankungen maßgeblich erweitern kann“, sagt Leopoldina-Präsident Prof. (ETHZ) Dr. Gerald Haug. „Der physikalische Blick auf das Verhalten von Tumorzellen, verbunden mit direkten Erkenntnissen aus der Klinik, hat das Potenzial, völlig neue Behandlungskonzepte gegen Krebs zu entwickeln.“
Am Beispiel Brustkrebs zeigt sich schon jetzt das Potenzial für die Krebsbehandlung. Entscheidend für den Therapieerfolg ist, ob der Krebs metastasiert oder nicht. Bisher ließ sich jedoch nicht zuverlässig vorhersagen, wann ein Tumor Metastasen ausbildet. Käs und Aktas gelang es zusammen mit Prof. Dr. Axel Niendorf (Hamburg), Marker zu identifizieren, die zusammen mit den bisherigen Kriterien deutlich besser auf das Metastasierungspotenzial eines Tumors hinweisen könnten. Dafür nutzten sie biophysikalische Konzepte, an deren grundsätzlicher Idee, dass metastasierende Krebszellen weicher sein müssen, Jochen Guck maßgeblich beteiligt war. Krebszellen sind lokal im Primärtumor sehr fest und dicht gepackt. Um sich vom ursprünglichen Tumor zu lösen und sich durch den menschlichen Körper zu bewegen, müssen die Krebszellen weicher werden, so dass sich die Krebszellaggregate verflüssigen. In ihrer Studie konnten Käs und Aktas gemeinsam mit Axel Niendorf die histologischen Merkmale der sich verflüssigenden Krebszellen identifizieren: Sie waren länglicher und wiesen deformierte Zellkerne auf. So konnten sie sich durch benachbartes Gewebe „quetschen“. Ihre Studie mit über 1.000 Brustkrebspatientinnen ist ein starker Hinweis, dass diese deformierten Zell- und Kernformen als verlässliche Marker für die Aggressivität der Krebserkrankung genutzt werden können und das Potenzial eines Tumors, Metastasen zu bilden, vorhersagen. Somit könnte die Behandlung von Brustkrebs individueller an die jeweiligen Patientinnen angepasst werden. Parallel zu den Aktivitäten in Leipzig hat Guck in Erlangen eine Hochdurchsatzmethode entwickelt, um die Deformierbarkeit von Zellen zu messen (real-time deformability cytometry, RT-DC). Diese Methode ist besonders geeignet, um Wirkstoffe zu finden, die die Krebszellmechanik verändern können, um Metastasen zu verhindern.
Bahriye Aktas (Jahrgang 1975) ist Professorin für Gynäkologie an der Universität Leipzig und Direktorin der Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde am Universitätsklinikum Leipzig. Aktas studierte Medizin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Am Universitätsklinikum Essen absolvierte sie die Facharztausbildung für Gynäkologie und Geburtshilfe, habilitierte sich dort im Jahr 2013 und erhielt 2017 eine außerplanmäßige Professur. Im selben Jahr wechselte sie an die Universität Leipzig. Als Gynäkoonkologin liegen ihre Schwerpunkte neben der minimal-invasiven und roboterassistierten Chirurgie, die für schonende und präzise Operation mit besseren Heilungschancen eingesetzt werden, insbesondere auf der Krebsfeldchirurgie. Gemeinsam mit ihrem Vorgänger arbeitet sie an der internationalen Etablierung neuer Operationsmethoden, die berücksichtigen, wie sich ein Tumor ausbreitet.
Jochen Guck (Jahrgang 1973) studierte Physik in Würzburg und promovierte an der University of Texas in Austin/USA bei Josef Käs. Gemeinsam entwickelten sie Werkzeuge, um die Zellmechanik zu untersuchen (den Optical Cell Stretcher). Nach Forschungsstationen an der Universität Leipzig und der University of Cambridge/UK erhielt Guck 2012 die Alexander von Humboldt-Professur für zelluläre Maschinen am Biotechnologischen Zentrum der Technischen Universität Dresden und war dort leitender Direktor. Seit 2018 ist er Direktor am Max-Planck-Institut für die Physik des Lichts sowie seit 2020 Professor für biologische Optomechanik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er entwickelte weitere photonische und biophysikalische Werkzeuge, wie z. B. die real-time deformability cytometry. Diese sind Grundlage für viele klinische Kooperationen in Erlangen am neuen Max-Planck-Zentrum für Physik und Medizin.
Josef Käs (Jahrgang 1961) ist Leiter der Abteilung Physik der weichen Materie am Peter-Debye-Institut für Physik der weichen Materie der Universität Leipzig. Er studierte Physik an der Columbia University in New York/USA und der Technischen Universität München. Dort wurde er auch promoviert. Nachdem er eine Professur an der University of Texas in Austin innehatte, wechselte er an die Universität Leipzig. Eines seiner wichtigsten Forschungsfelder ist die Erforschung der physikalischen Eigenschaften von Krebszellen. Er entdeckte, wie Krebszellen verschiedene Festigkeits- und Flüssigkeitszustände annehmen und sorgte für einen Paradigmenwechsel beim Verständnis der Tumormechanik.
Der Greve-Preis der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina wird an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Forschungsteams verliehen, die in Deutschland an Hochschulen, außeruniversitären Forschungseinrichtungen oder in Wirtschaftsunternehmen tätig sind. Die Auszeichnung wird alle zwei Jahre verliehen und würdigt besonders herausragende Forschungsleistungen in den Bereichen Naturwissenschaften/Medizin und Technikwissenschaften. Der Greve-Preis wird themenspezifisch ausgeschrieben, in diesem Jahr zu Grundlagen neuer Krebstherapien. Der Preis ist mit 250.000 Euro dotiert, die aus Mitteln der Greve-Stiftung stammen. Weitere Informationen zum Greve-Preis: https://www.leopoldina.org/ueber-uns/auszeichnungen/preise-und-ehrungen/greve-preis/
Die Preisverleihung findet am Freitag, 6. Dezember 2024 um 11:00 Uhr im Rahmen eines Festakts statt, zu dem der Präsident des Senats der Freien und Hansestadt Hamburg, Erster Bürgermeister Dr. Peter Tschentscher, in das Hamburger Rathaus einlädt. Journalistinnen und Journalisten, die sich für die Preisverleihung interessieren, wenden sich bitte bis zum 15. November per E-Mail an presse@leopoldina.org. Interviews mit den Preisträgerinnen und Preisträgern werden gerne vermittelt.
Die Veranstaltung wird auf dem YouTube-Kanal der Leopoldina im Livestream übertragen: https://www.youtube.com/NationaleAkademiederWissenschaftenLeopoldina.
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Über die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina:
Als Nationale Akademie der Wissenschaften leistet die Leopoldina unabhängige wissenschaftsbasierte Politikberatung zu gesellschaftlich relevanten Fragen. Dazu erarbeitet die Akademie interdisziplinäre Stellungnahmen auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse. In diesen Veröffentlichungen werden Handlungsoptionen aufgezeigt, zu entscheiden ist Aufgabe der demokratisch legitimierten Politik. Die Expertinnen und Experten, die Stellungnahmen verfassen, arbeiten ehrenamtlich und ergebnisoffen. Die Leopoldina vertritt die deutsche Wissenschaft in internationalen Gremien, unter anderem bei der wissenschaftsbasierten Beratung der jährlichen G7- und G20-Gipfel. Sie hat rund 1.700 Mitglieder aus mehr als 30 Ländern und vereinigt Expertise aus nahezu allen Forschungsbereichen. Sie wurde 1652 gegründet und 2008 zur Nationalen Akademie der Wissenschaften Deutschlands ernannt. Die Leopoldina ist als unabhängige Wissenschaftsakademie dem Gemeinwohl verpflichtet.
Über die Hamburgische Stiftung für Wissenschaften, Entwicklung und Kultur Helmut und Hannelore Greve:
Prof. Dr. Dr. h. c. Helmut Greve und Prof. Dr. h. c. Hannelore Greve gründeten 1995 die Hamburgische Stiftung für Wissenschaften, Entwicklung und Kultur Helmut und Hannelore Greve. Im wissenschaftlichen Bereich ermöglichte die Stiftung u. a. die Gründung der Akademie der Wissenschaften in Hamburg mit einer Anschubfinanzierung über drei Jahre sowie die Ausschreibung eines hochdotierten Hamburger Wissenschaftspreises und seit 2022 die Ausschreibung des Greve-Preises der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Das Verantwortungsbewusstsein der Stiftungsgründer, ihr Gespür für Qualität und ihre Einsicht ins Notwendige und Machbare haben auch die Arbeit der Stiftung geprägt und prägen sie noch heute. Eva-Maria Greve und Wolfgang Peter Greve führen als Vorstand die Stiftungsarbeit in diesem Sinne fort.
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