Geographie: Komplexe Krisen besser verstehen
LMU-Forschende stellen ein neues Modell für die Risikoforschung vor, das Wechselwirkungen berücksichtigt und verschiedene Disziplinen zusammenbringt.
Klimakatastrophe, Pandemien, Artensterben, Gewaltkonflikte – wir leben in Zeiten multipler Krisen. Forschende und Entscheidungsträger auf der ganzen Welt suchen nach Wegen, bestmöglich auf diese vielfältige Gefahrenlage zu reagieren. Doch das ist leichter gesagt als getan. „Im sogenannten Anthropozän – dem Zeitalter des Menschen – laufen systemische Risiken zunehmend zusammen“, sagt Dr. Alexandre Pereira Santos von der Lehr- und Forschungseinheit Mensch-Umwelt-Beziehungen am LMU-Department für Geographie. „Wir wissen, dass diese Risiken Schäden und Verluste verursachen, die sogar noch größer werden können, wenn die Gefahren aufeinandertreffen und ihre Auswirkungen sich vervielfachen.“ Das sei beispielsweise der Fall gewesen, als die COVID-19-Krise nicht nur die Gesundheit der Menschen beeinträchtigte, sondern auch viele in die Armut trieb. Die Komplexität der Wechselwirkungen ist jedoch bei vielen Krisen nur teilweise verstanden. Die Wissenschaft tut sich schwer damit, die verschiedenen Analyseskalen, disziplinären Perspektiven und Gesellschaftsbereiche zusammenzubringen.
In einem kürzlich im Fachmagazin One Earth veröffentlichten Artikel präsentieren Pereira Santos und seine Kollegen von der Universität Hamburg und der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität Norwegens einen neuartigen Ansatz für den Umgang mit dieser Vielschichtigkeit. Das Ziel: die verschiedenen Aspekte berücksichtigen und zusammenführen. „Unser neuartiges Konzept nutzt gängige Analysemethoden aus den Klima- und Sozialwissenschaften und verbindet sie durch ein Übersetzer-Element“, so Pereira Santos. Dieser Übersetzer bringt die verschiedenen Perspektiven, räumlichen und zeitlichen Skalen und sozialen Sektoren zusammen und ermöglicht eine nuanciertere Beschreibung von Gesundheits- und Klimakrisen. Er bewahrt dabei die Komplexität und Vielfalt der Erkenntnisse und ermöglicht so die Ausarbeitung von integrativeren und kontextbewussten Anpassungsstrategien.
„Vor unserem Ansatz musste die Forschung oft auswählen, welche Aspekte betrachtet werden sollten, um eine Überfrachtung mit Informationen zu vermeiden. Oder sie musste mehrere Risiken, Regionen oder soziale Sektoren ganzheitlich analysieren, wodurch Informationen verlorengingen“, erklärt der Geograph. Dazu gehören zum Beispiel die Wechselwirkungen zwischen den Risiken, individuelle soziale Gegebenheiten, die Auswirkungen auf die Wirtschaft oder die Risikoexposition verschiedener Personengruppen. Die Risikoforschung sei durch disziplinäre Ansätze und Analysen einzelner Sektoren oder Skalen oft begrenzt, was zu voreingenommenen, fehlgeleiteten und ungerechten Resultaten führen könne.
Die Autoren des Artikels schlagen deshalb vor, über diesen Kompromiss hinauszugehen und stattdessen die Komplexität der verschiedenen Risiken auf organisierte Weise anzugehen, ohne dabei an Breite und Tiefe zu verlieren. „Unser Übersetzermodell bringt verschiedene Erkenntnisquellen zusammen und fügt sie zu einem sinnvollen Ganzen zusammen“, erklärt Pereira Santos. „Der von uns vorgeschlagene Rahmen bietet eine tiefgreifende und gleichzeitig integrierte und vielfältige Beschreibung der Risikofaktoren, um Forschung und Politik mit systematischen und kontextsensitiven Erkenntnissen zu unterstützen.“
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dr. Alexandre Pereira Santos
Lehr- und Forschungseinheit Mensch-Umwelt-Beziehungen
Department für Geographie
Ludwig-Maximilians-Universität München
Alexandre.Santos@lmu.de
Originalpublikation:
Alexandre Pereira Santos, Juan Miguel Rodriguez-Lopez, Yechennan Peng & Jürgen Scheffran: Integrating Sectors, Scales and Disciplines in the climate-health nexus: A framework for systemic risks and multi-stressors vulnerability research. One Earth 2024
https://doi.org/10.1016/j.oneear.2024.09.006