Keine wissenschaftlichen Belege für Zusammenhang zwischen Radikalisierung und Migration
In der öffentlichen Diskussion wird das Thema Radikalisierung häufig mit Migrationsthemen verknüpft. Aber lassen sich dafür belastbare Daten und wissenschaftliche Belege finden? Das Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) hat auf Basis wissenschaftlicher Publikationen der letzten zehn Jahre festgestellt: Über alle Extremismen hinweg lässt sich in der deutschsprachigen Forschung kein wissenschaftlicher Beleg dafür finden, dass sich Personen mit Migrationsgeschichte zu einem höheren Anteil radikalisieren als die einheimische Bevölkerung. Die Kurzanalyse „Gibt es einen Nexus zwischen Migration und Radikalisierung“ fasst den Forschungsstand zusammen.
Das Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) erstellte einen literaturbasierten Überblick vorhandener Forschungsarbeiten, um der Frage nach einem möglichen Nexus zwischen Migration und Radikalisierung nachzugehen. Die daraus entstandene Kurzanalyse beleuchtet zentrale Ergebnisse der Literaturauswertung und zeigt Forschungslücken auf, die zur Klärung des Zusammenhangs von Migration und Radikalisierung beitragen können. Da die Situation in Deutschland sowie der deutschsprachige Diskurs im Vordergrund stehen, wurde bei der Auswertung vornehmlich deutschsprachige Literatur der letzten zehn Jahre herangezogen und punktuell durch englischsprachige Veröffentlichungen ergänzt.
Schwierige Datenlage: Personen mit Migrationsgeschichte in radikalisierten Gruppen
Die Forscherinnen stellen fest: Konkrete Zahlen zu Personen mit Migrationsgeschichte in radikalisierten Milieus sind kaum zu finden. Dr. Alina Neitzert, wissenschaftliche Mitarbeiterin im BAMF-Forschungszentrum, betont dabei: „Unsere Recherche beschäftigte sich nicht nur mit Phänomenen wie dem Islamismus, bei dem Radikalisierung häufig mit einer Migrationsgeschichte in Verbindung gebracht wird, sondern auch mit Rechtsextremismus, Linksextremismus und auslandsbezogenem Extremismus.“
Instrumentalisierung von Migration durch extremistische Narrative
Die Analyse der Literatur macht deutlich: Extremistische Narrative adressieren Personen sowohl mit als auch ohne Migrationsgeschichte und Migrationsthemen werden gezielt zu Mobilisierungszwecken genutzt. Bei der Mobilisierung zielen die extremistischen Gruppierungen auf die Bildung von nach außen möglichst geschlossenen In-Groups ab, die sich durch die Abwertung anderer Gruppen definieren. „Die Definition der In-Group im Hinblick auf die Migrationsgeschichte unterscheidet sich je nach Extremismus. Während im islamistischen Spektrum oder im Bereich des auslandsbezogenen Extremismus häufig auf die Diskriminierungserfahrungen rekurriert wird, um Menschen mit Migrationsgeschichte anzusprechen und zu mobilisieren, definieren rechtsextreme Narrative das Thema Migration eher als Gefahr für die Gesellschaft“, so Nelia Miguel Müller, wissenschaftliche Mitarbeiterin im BAMF-FZ.
Fehlende gesellschaftliche Teilhabe als Risikofaktor für Radikalisierung?
Forschung zu Radikalisierungsmechanismen zeigt: Die Risikofaktoren für eine Radikalisierung in den unterschiedlichen Phänomenbereichen ähneln sich insgesamt sehr stark. Dabei stellt eine Migrationsgeschichte per se keinen Risikofaktor dar. „Auf Basis der Forschung kann kein Beleg dafür gefunden werden, dass Personen mit Migrationsgeschichte anfälliger für eine extremistische Radikalisierung sind. Die Analyse hat jedoch gezeigt, dass Personen, häufig Jugendliche, die immer wieder Diskriminierung erleben und in instabilen familiären Verhältnissen aufwachsen, stärker gefährdet sind“, resümiert Nelia Miguel Müller.
Empirische Forschung zum Thema Radikalisierung fehlt
Selbst wenn Personen mit Migrationsgeschichte aufgrund der Diskriminierung oder familiärer Probleme gefährdet sein könnten, radikalisiert sich der Großteil von ihnen nicht – eine Tatsache, die im aktuellen politischen Diskurs ebenfalls zu berücksichtigen ist. Neben den Risiken sollte die Forschung daher auch die Faktoren untersuchen, die zur Resilienz von Menschen mit Migrationsgeschichte gegenüber Radikalisierung beitragen. Außerdem könnte die Forschung ihre Aufmerksamkeit verstärkt darauf richten, mit welchen Mitteln extremistische Gruppierungen die Spaltung der Gesellschaft zu erreichen suchen und welche Narrative sie dazu einsetzen. Dies ist wichtig, um einer Rekrutierung der gefährdeten Personen entgegenzuwirken.
Weitere Informationen:
Die BAMF-Kurzanalyse „Gibt es einen Nexus zwischen Migration und Radikalisierung“ finden Sie hier: https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/Kurzanalysen/kurzanalyse4-2024-nexus-zwischen-migration-und-radikalisierung.html?nn=282388
Über das Forschungsprojekt „Nexus zwischen Migration und Radikalisierung“ erfahren Sie hier mehr: https://www.bamf.de/SharedDocs/ProjekteReportagen/DE/Forschung/Deradikalisierung/projekt-nexus-zwischen-migration-und-radikalisierung.html?nn=282388
Über das BAMF-Forschungszentrum:
Mit der Arbeit des 2005 gegründeten Forschungszentrums kommt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) seiner gesetzlichen Aufgabe nach, wissenschaftliche Forschung zu Migrations- und Integrationsthemen zu betreiben. Das Forschungszentrum betrachtet das Migrationsgeschehen nach und von Deutschland und analysiert die Auswirkungen der Zuwanderung. Es begleitet Integrationsprozesse und trägt mit seinen Erkenntnissen entscheidend zur Weiterentwicklung von Integrationsmaßnahmen auf Bundesebene bei. Weitere Forschungsschwerpunkte sind u. a. Erwerbs- und Bildungsmigration, Fluchtmigration, Rückkehr und sicherheitsrelevante Aspekte der Zuwanderung. Damit leistet das BAMF-Forschungszentrum einen grundlegenden Beitrag zum Informationstransfer zwischen Wissenschaft, Verwaltung, Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit.
Weitere Informationen unter: https://www.bamf.de/DE/Themen/Forschung/forschung-node.html
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Nelia Miguel Müller, Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Link: https://www.bamf.de/SharedDocs/Struktur/Personen/DE/WissenschaftlicheMA/mueller-nelia-miguel-person.html?nn=870138
Dr. Alina Neizert, Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Link: https://www.bamf.de/SharedDocs/Struktur/Personen/DE/WissenschaftlicheMA/neitzert-alina-person.html?nn=870138
Originalpublikation:
Neitzert, A., Miguel Müller, N. & Lux, C. (2024). Gibt es einen Nexus zwischen Migration und Radikalisierung? Eine wissenschaftliche Spurensuche (Kurzanalyse 04/2024). Nürnberg. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. https://doi.org/10.48570/bamf.fz.ka.04/2024.d.2024.nexus.1.0