Knoblaucheis mit Knallzucker?! „Entscheidungsrauschen“ ist kein Messfehler
ABNAHME INKONSISTENTER ENTSCHEIDUNGEN VOM JUGEND- ZUM ERWACHSENENALTER VERMITTELT ZUNAHME KOGNITIVER KOMPETENZ
Die Arbeitsgruppe “Kognitive Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie“ des Universitätsklinikums Würzburg stellt in der Fachzeitschrift PLOS Biology erstmals die Entwicklung verrauschter Entscheidungen der Entwicklung spezifischer kognitiver Prozesse gegenüber. Es zeigte sich, dass eine altersabhängige Zunahme spezifischer und komplexer kognitiver Prozesse nicht nur mit einer Abnahme „verrauschter“ inkonsistenter Entscheidungen einhergeht, sondern sogar von dieser Abnahme abhängt.
Würzburg. Wer kennt sie nicht, die Qual der Wahl, zum Beispiel in der Eisdiele. Nehme ich meine Lieblingssorte oder probiere ich etwas Neues, vielleicht sogar etwas ganz Exotisches. Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist dieses so genannte Entscheidungsrauschen besonders groß. Bei einer Fehlentscheidung oder einem „Igitt!“ reagieren die Eltern meist mit „Das war doch klar. Das hätte ich dir gleich sagen können.“ Eben weil Erwachsene in der Regel überlegter und vorausschauender entscheiden.
Altersabhängige Abnahme inkonsistenter Entscheidungen könnte Voraussetzung für Entwicklung komplexer kognitiver Prozesse sein
Prof. Dr. Lorenz Deserno, Leiter der Arbeitsgruppe “Kognitive Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie" an der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Würzburg (UKW), bezeichnet diese verrauschten Entscheidungen auch als explorative oder inkonsistente Entscheidungen. Sie nehmen im Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter kontinuierlich ab, während spezifische und komplexe kognitive Prozesse zunehmen. Neueste Forschungsergebnisse seiner Arbeitsgruppe, die jetzt in der Fachzeitschrift PLOS Biology veröffentlicht wurden, legen sogar nahe, dass die altersabhängige Abnahme inkonsistenter Entscheidungen eine Voraussetzung für die Entwicklung komplexer kognitiver Prozesse sein könnte.
„Bisherige Studien haben inkonsistente Entscheidungen oft ignoriert und als Messfehler abgetan. Wir haben uns aber die Rauschkomponenten, die sich aus fast allen Verhaltensexperimenten extrahieren lassen, genauer angeschaut“, berichtet Lorenz Deserno. Dazu hat seine Mitarbeiterin Dr. Vanessa Scholz die Daten von 93 Männern und Frauen im Alter von 12 bis 42 Jahren ausgewertet, die am Computer drei verschiedene Aufgaben lösen mussten: spielerische Aufgaben, die die Annäherung an Belohnung und Bestrafung testen sowie Aufgaben zum Umlernen von Entscheidungen und zur Planung von Entscheidungen. „In solchen Experimenten sehen wir, wie die Studienteilnehmenden aufeinander folgende Entscheidungen planen, wie schnell sie sich anpassen, wenn sich der Zusammenhang zwischen Entscheidung und Ereignis plötzlich ändert, und wie die Entscheidungen von positiven und negativen Ereignissen abhängen“, schildert Vanessa Scholz.
„Computational Psychiatry“
Bevor die Psychologin vor vier Jahren nach Würzburg in die Arbeitsgruppe von Lorenz Deserno kam, arbeitete sie als Postdoktorandin in den Niederlanden im Bereich der Verhaltensmodellierung. Dabei geht es darum, menschliches Verhalten und kognitive Prozesse mit Hilfe von mathematischen Modellen und Computersimulationen zu verstehen. Bei der Verhaltensmodellierung ist nicht allein das konkrete Ergebnis ausschlaggebend, also welche Entscheidung getroffen wurde, sondern wie es zu dieser Entscheidung gekommen ist, was psychologisch und biologisch passiert ist, dass ich mich zwischen A und B entschieden habe. „Jedes Modell bildet verschiedene Prozesse ab und stellt eine Hypothese dar. So baue ich aus ganz einfachen Modellen immer komplexere Modelle“, erklärt Vanessa Scholz. Und das sei in der Entwicklungspsychiatrie besonders spannend. „Denn mit den Modellen können wir in unserem Fall ganz konkret verschiedene Entscheidungswege vergleichen und zum Beispiel reflektierte von verrauschten Prozessen trennen.“
„Computational Psychiatry“ ist das Stichwort. Dieser Forschungsansatz, bei dem Methoden der theoretischen Computational Neuroscience direkt mit der Psychiatrie verknüpft werden, ist in der Kinder- und Jugendpsychiatrie relativ neu. Weltweit gibt es nur vereinzelte Arbeitsgruppen, die diesen Forschungsansatz in der Entwicklungspsychiatrie anwenden. „Hier hat Würzburg fast ein Alleinstellungsmerkmal“, betont Lorenz Deserno. Der Mediziner hat sich bereits in London intensiv mit Computational Psychiatry beschäftigt, bevor er nach Würzburg ans Zentrum für Psychische Gesundheit kam.
Das Inkonsistente war bei allen drei Experimenten konsistent
Vanessa Scholz erklärt, was ihre aktuellen Modellierungen ergeben haben: „Das Niveau des Rauschens pro Individuum war über die drei Experimente sehr konsistent. Das zeigt uns, dass das Rauschen keine gezielte Exploration ist, sondern hier noch eine kontextunabhängige Eigenschaft. Diese Eigenschaft sollte im Laufe der Entwicklung abnehmen, weil man ja eigentlich kontextadaptiveres Verhalten erlernen will.“ So können die meisten Erwachsene besser vorausdenken, planen und sich anpassen als Jugendliche, weil ihre kognitiven Fähigkeiten in der Regel ausgereifter sind.
Welche klinische Relevanz hat das Rauschen?
In allen Experimenten beobachteten die Forschenden eine altersabhängige Zunahme der komplexen kognitiven Prozesse. Der stärkere Effekt war jedoch die Abnahme des Entscheidungsrauschens. Völlig neu an dieser Arbeit ist, dass die Forschenden diese beiden Stränge zusammengeführt haben und zeigen konnten, dass sie proportional zusammenhängen: Die Zunahme der Komplexität von Prozessen scheint von der Abnahme des Entscheidungsrauschens abhängig zu sein. Das Entscheidungsrauschen hätte also eine Bedeutung für die altersabhängige Entwicklung. Lorenz Deserno folgert daraus: „Inkonsistente Entscheidungen könnten der Erkundung oder dem Ausprobieren neuer Verhaltensweisen und Kontexte dienen und damit eine gesunde Entwicklung spezifischer und komplexer kognitiver Prozesse ermöglichen. Wenn Entscheidungen jedoch zu oft inkonsistent bleiben, kann dies die Entwicklung komplexer kognitiver Prozesse und des Gehirns negativ beeinflussen.
Kognitive Kompetenz bei ADHS stärken oder Rauschen reduzieren?
Das könnte zum Beispiel für Menschen mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, relevant sein. So untersucht das Team derzeit, ob inkonsistente Entscheidungen bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS eine zentrale Rolle bei der Erkrankung spielen und möglicherweise ein Ansatzpunkt für verbesserte Therapien sein könnten. Ist die etwas reduzierte kognitive Leistung von Kindern mit ADHS eine Folge des Rauschens, oder ist das für Kinder mit ADHS typische sprunghafte eine Folge der reduzierten kognitiven Leistung? Sollte die kognitive Leistung des Kindes gestärkt oder das Rauschen reduziert werden, damit das Kind kognitiv stärker werden kann?
Generell wirft der Entscheidungsprozess, der eine Systemeigenschaft zu sein scheint, viele weitere Fragen auf. Zum Beispiel wäre es interessant, im Längsschnitt zu beobachten, wie schnell und wann genau das Rauschen abnimmt. Sind Menschen, bei denen das Rauschen schneller abnimmt, gesünder als andere oder umgekehrt? Was ist bei Erwachsenen noch Rauschen, was gezielte Exploration oder einfach Neugier, nach dem Motto: „Ich probiere heute ganz bewusst das Knoblaucheis mit Knallzucker“.
Kooperation und Förderung:
Die Studie wurde in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig durchgeführt und unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Prof. Dr. Lorenz Deserno, Deserno_L@ukw.de
Originalpublikation:
Vanessa Scholz, Maria Waltmann, Nadine Herzog, Annette Horstmann, Lorenz Deserno (2024) Decrease in decision noise from adolescence into adulthood mediates an increase in more sophisticated choice behaviors and performance gain. PLoS Biol 22(11): e3002877. https://doi.org/10.1371/journal.pbio.3002877