Presseinformation
Heidelberg, den 18. November 2024
Ladenburger Kolleg
„Der Aggressor: Selbst- und Fremdwahrnehmung eines Akteurs zwischen den Nationen“
Wie wird mit Aggressoren umgegangen?
Interview mit Prof. Dr. Thomas Maissen, Universität Heidelberg, Leiter des Ladenburger Kollegs „Der Aggressor“ der Daimler und Benz Stiftung
Alle europäischen Nationen definieren ihren Charakter und ihre Eigenständigkeit über die Auseinandersetzung mit historischen Aggressoren. Da diese in Nachbarländern oft als militärische Helden verehrt werden, steckt in solchen Geschichtsbildern seit jeher ein großes Konfliktpotenzial. Im Rahmen des Ladenburger Kollegs „Der Aggressor: Selbst- und Fremdwahrnehmung eines Akteurs zwischen den Nationen“ analysiert ein europäisches Konsortium die Deutung fremder und landeseigener Aggressoren. Das Kolleg wird von der Daimler und Benz Stiftung für einen Zeitraum von drei Jahren mit rund 1,5 Millionen Euro gefördert. Die wissenschaftliche Leitung hat der Historiker Prof. Dr. Thomas Maissen, Universität Heidelberg.
Redaktion: Herr Prof. Maissen, halten tatsächlich alle Staaten die eigenen Aggressoren der Vergangenheit und Gegenwart für die Guten?
Maissen: Nein, denn außenpolitische Aggressoren behandeln auch die eigene Bevölkerung meist nicht mit Samthandschuhen. Nehmen wir ein offensichtliches Beispiel: Als Diktator und Hauptschuldiger für die Zerstörung vieler deutscher Städte und des deutschen Judentums ist Adolf Hitler aus guten Gründen in extrem schlechter Erinnerung. Allerdings denkt man hierzulande deutlich weniger an ihn als Aggressor gegenüber Norwegen, Estland oder auch der Ukraine. Kurz gesagt herrschen auch gegenüber den „Bösen“ selektive Erinnerungen – es gibt eigene Aggressionen, die man verinnerlicht, und andere, die man in den Hintergrund rückt.
Redaktion: Sie befassen sich mit Geschichtsnarrativen in Europa. Wären da nicht andere Staaten, etwa Russland oder China, viel interessanter?
Maissen: Russland gehört zu Europa und auch zu den Ländern, die wir untersuchen. Tatsächlich war Europa schon durch die Ausschreibung der Stiftung vorgegeben – und das ist ein absolut sinnvoller Fokus. Im Zuge der europäischen Integration schleppen wir viele verborgene Geschichten von Aggressoren wenig bewusst mit uns: Einerseits denken wir meist nur an die wenigen großen Aggressoren, andererseits sind wir gerade in Deutschland der eher naiven Auffassung, dass andere Nationen doch einfach unseren Umgang mit der NS-Vergangenheit für ihre jeweilige Vergangenheit übernehmen mögen. Das deutsche Narrativ von Schuld und Strafe ist zwar richtig, aber dennoch relativ simpel. Es wird beispielsweise den Völkern in Mittel- und Osteuropa nicht gerecht, die in eine mörderische Gemengelage zwischen Aggressoren, verschiedenen Ethnien, Völkermord, Erniedrigung, Widerstand, Mitschuld, Befreiung und auch eigenen Aggressionen gegen Nachbarn geraten sind.
Redaktion: Weshalb ist es naiv, anderswo eine Vergangenheitsbewältigung wie in Deutschland zu erhoffen?
Maissen: Nationen sind auch Verteidigungsbündnisse, sie funktionieren unvermeidlich nach dem Motto „Right or wrong – it’s my country“. Im Zweifelsfall, also etwa im Kriegsfall, ist die Solidarität wichtiger als der differenzierte Blick, den wir uns in einer friedlichen Wissenschaftslandschaft leisten können. Man muss sich an der Front auf seinen Nebenmann blind verlassen können, er darf nicht zweifeln. Vielleicht klingt diese Metaphorik nach sogenannter toxischer Männlichkeit, aber sie gilt genauso für andere Auseinandersetzungen. Wer etwa das Recht auf Abtreibung relativiert, wird aus der Frauenrechtsbewegung ausgeschlossen.
Redaktion: Weshalb unterscheiden sich die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Aggressoren zwischen einzelnenNationen innerhalb Europas so eklatant? Würden Sie das an einem historischen Beispiel näher erläutern?
Maissen: Ein faszinierendes Beispiel ist Napoleon I., weil es sowohl in Frankreich als auch in praktisch allen europäischen Ländern sowohl negative als auch positive Bewertungen zu seiner epochalen Rolle gibt. Das Beispiel lässt sich also gerade nicht auf die Formel positive Selbstwahrnehmung versus negative Fremdwahrnehmung herunterbrechen. Wenn man auf die negativen Bilder blickt, spielt die militärische Aggression eine entscheidende Rolle. In der Schweiz hat Napoleon einigen Kantonen zur Unabhängigkeit verholfen, nachdem Frankreich die zuvor herrschenden Kantone besiegt hatte. Und genau diese werfen ihm bis heute – allerdings zu Unrecht – das Verüben von Massakern vor. Im Westen Deutschlands schätzt man ihn, weil er mit dem „Code Napoleon“ das moderne Zivilrecht eingeführt hat, während in anderen Regionen der preußische Hass auf den Eroberer und Zerstörer der alten Ordnung nachwirkt. Spanien ist bis heute traumatisiert durch Napoleons Feldzüge und in Polen gilt er zumeist als Befreier von den Russen und den Deutschen.
Redaktion: Gibt es auch positive Beispiele dafür, wie Staaten sich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen?
Maissen: Der deutsche Umgang mit der NS-Geschichte ist nicht völlig unproblematisch, aber sicher ein grundsätzlich geeignetes Modell, weil es das eigene Verschulden zurecht an zentraler Stelle verankert. Bis es so weit war, hat es allerdings einige Jahrzehnte gedauert – obwohl die Voraussetzungen günstiger waren als in vielen anderen Ländern. Die kollektive deutsche Schuld war 1945 ebenso klar wie die individuelle von Hitler. Und wer sie dennoch bestritten hätte, dem hätten die Besatzungsmächte gehörig auf die Finger geklopft.
Redaktion: Also ohne militärische Besetzung keine Selbstkritik?
Maissen: Wichtig sind eine demokratische Streitkultur und die Freiheit der Forschung. In einer offenen Gesellschaft mit freien Medien und einer freien Geschichtswissenschaft lassen sich Erinnerungen offen diskutieren und auch nachjustieren.Genau das versuchen illiberale Regierungen zu verhindern, die beispielsweise über Vergangenheitsgesetze die ihnen genehme Geschichtsdeutung für die Öffentlichkeit diktieren.
Redaktion: Was können die Ergebnisse des Ladenburger Kollegs für die Zukunft leisten und was lässt sich gerade mit Blick auf gegenwärtige politische Entwicklungen lernen?
Maissen: Die europäische Integration setzt voraus, dass alle Nationen die Opfergeschichten ihrer Partner kennen und bereit sind, die eigenen nicht absolut zu setzen, sondern sich selbst sowohl als Opfer als auch als Aggressor zu sehen. Das Ladenburger Kolleg führt diese Dialogbereitschaft mit Historikern gerade auch aus Mittel- und Osteuropa als Diskursformat vor. Außerdem hoffen wir, dass die Forschungsergebnisse dabei helfen, das Wissen über andere Geschichtsbilder zu vertiefen und zu verbreiten.
Redaktion: Für welche Gruppen ist ein Bewusstsein um Geschichtsnarrative relevant?
Maissen: Narrative im engeren Sinn und ihr Wandel sind vor allem für Historiker interessant. Von politischer Relevanz ist jedoch das Bewusstsein, dass diese nicht im stolzen Eigenlob auf ewig feststehen; das muss man vor allem gegen die politische Rechte betonen, die eine heroische Vergangenheit oft als identitätsbildend verteidigt. Zugleich sind solche Narrative aber auch nicht völlig willkürlich konstruiert, was auf der Seite der politisch Linken manchmal vergessen wird.
Redaktion: Sollte das Thema generell einen größeren Stellenwert in der Bildung erhalten?
Maissen: Die Gegenüberstellung von Geschichtsnarrativen ist hervorragend geeignet, um gerade in der Schule historisches Denken und Arbeiten zu lernen. Wie und weshalb unterscheiden sich unsere Geschichtsbilder? Binationale Schulbücher, etwa zur deutsch-französischen Geschichte, sind wunderbare Werkzeuge dafür. Sie zeigen auch, dass wir unsere Geschichtsbilder nicht im Blut haben, sondern nicht zuletzt in der Schule vermittelt bekommen.
Redaktion: Im Ladenburger Kolleg arbeiten auf europäischer Ebene Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen zusammen. Das Hauptaugenmerk liegt auf Geschichte, aber welche Fachbereiche spielen noch hinein?
Maissen: Die Sozialwissenschaften und vor allem die Politikwissenschaft, die das Thema Macht untersucht, sind als Disziplinen unverzichtbar. Da wir Textquellen und visuelles Material auswerten, brauchen wir Philologien und Bildwissenschaftler. Dazu kommt, dass niemand allein auch nur im Ansatz all die Sprachen beherrscht, die in unserem
Ladenburger Kolleg zusammenkommen.
Redaktion: Wie organisieren Sie die länderübergreifende Zusammenarbeit?
Maissen: Soweit möglich treffen wir uns zu gemeinsamen Veranstaltungen und Tagungen vor Ort. Die Doktoranden und Postdocs haben aber auch ein Online-Seminar in englischer Sprache etabliert. Die Mitglieder und Interessierten werden durch einen Newsletter auf dem Laufenden gehalten.
Redaktion: Welche Bedeutung hat die Förderung durch die Daimler und Benz Stiftung?
Maissen: Die Förderung ist nicht nur großzügig, sondern auch vertrauensvoll, pragmatisch und unbürokratisch. Es ist nicht selbstverständlich, dass wissenschaftlicher Nachwuchs sogar an Institutionen anderer Länder gefördert wird. Für uns alle ist das tatsächlich Neuland – und die Stiftung trägt dieses Risiko mit.
Redaktion: Was wünschen Sie sich persönlich für die Zukunft?
Maissen: Ich wünsche mir, dass sie deutlich weniger schlimm ausfällt, als ich es derzeit erwarte.
Daimler und Benz Stiftung
Die Daimler und Benz Stiftung fördert Wissenschaft und Forschung. Dazu richtet sie innovative und interdisziplinäre Forschungsformate ein. Ein besonderes Augenmerk legt die Stiftung durch ein Stipendienprogramm für Postdoktoranden sowie die Vergabe des Bertha-Benz-Preises auf die Förderung junger Wissenschaftler. Mehrere Vortragsreihen sollen die öffentliche Sichtbarkeit von Wissenschaft stärken und deren Bedeutung für unsere Gesellschaft betonen.
Universität Heidelberg
Die 1386 gegründete Ruperto Carola ist eine international ausgerichtete Forschungsuniversität, deren Fächerspektrum die Geistes-, Sozial- und Rechtswissenschaften sowie die Natur-, Ingenieur- und Lebenswissenschaften einschließlich der Medizin umfasst. Ihre Erfolge in den Exzellenzwettbewerben – sie gehört zur Gruppe der deutschen Exzellenzuniversitäten – ebenso wie in internationalen Rankings belegen ihre führende Rolle in der Wissenschaft. Es ist das Selbstverständnis der Universität Heidelberg, herausragende Einzeldisziplinen weiterzuentwickeln, die fächerübergreifende Zusammenarbeit zu stärken und ihre Forschungsergebnisse in die Gesellschaft zu tragen. Den rund 30.000 Studierenden bietet sie mit einem forschungsorientierten Studium in mehr als 180 Studiengängen eine große Vielfalt an Fächerkombinationen und individuellen Qualifikationswegen.
Kommunikation:
Patricia Piekenbrock, Daimler und Benz Stiftung
+49 6203 1092 0
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Marietta Fuhrmann-Koch, Universität Heidelberg
+49 6221 5419010
fuhrmann-koch@uni-heidelberg.de
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung weiblicher und männlicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten für Personen aller Geschlechter. Wir möchten die in den Texten der Stiftung verwendete Form als geschlechtsneutral und wertfrei verstanden wissen.
Weitere Informationen:
https://www.uni-heidelberg.de/en/the-aggressor/the-aggressor-blog
https://www.daimler-benz-stiftung.de/cms/de/forschen/ladenburger-kollegs