Wie die Evolution des Gehirns mit dem Gebrauch von Werkzeugen zusammenhängt
Forschungsteam des Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen verbindet experimentelle Archäologie mit der Aufzeichnung von Hirnströmen
Veränderungen des Großhirns könnten frühe Menschen zum präzisen Einsatz von Werkzeugen befähigt und so die biokulturelle Evolution in Gang gesetzt haben, die zum heutigen Wesen des Menschen führte. Das hat ein Forschungsteam unter der Leitung von Dr. Alexandros Karakostis vom Institut für Naturwissenschaftliche Archäologie und dem Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment an der Universität Tübingen in einer experimentellen Studie festgestellt. Das Team nutzte dabei einen neuen Ansatz: Es zeichnete die Hirnströme von Probandinnen und Probanden mithilfe der Elektroenzephalografie auf, während diese Steinwerkzeuge nutzten, wie sie auch bei frühen Menschen zum Einsatz kamen. Die Studienergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Scientific Reports veröffentlicht.
„Für die Evolution von uns Menschen waren technologische Innovationen entscheidend“, sagt Alexandros Karakostis. „Uns interessiert, welche kognitiven Entwicklungen für den Gebrauch relativ einfacher Steinwerkzeuge nötig sind – und an welcher Stelle sich der Mensch und andere Primaten in ihren Fähigkeiten unterscheiden.“ Im Experiment haben die Forscherinnen und Forscher zwei verschiedene Arten des Werkzeuggebrauchs untersucht: Zum einen sollten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Nüsse knacken mithilfe eines Steins als Hammer, zum anderen sollten sie mit scharfkantigen Steinabschlägen Muster in Leder schneiden. „Die Steinwerkzeuge haben wir als genaue Imitationen von frühen archäologischen Funden angefertigt“, erklärt Simona Affinito, Doktorandin in Karakostis‘ Arbeitsgruppe und Erstautorin der Studie. Während das Nussknacken mithilfe von Steinen auch bei verschiedenen Tieren wie Affen und Menschenaffen beobachtet wurde, sei der Einsatz von Steinabschlägen zum Schneiden nur von Menschen bekannt.
Unterschiedliche kognitive Voraussetzungen
Bei ihren Bemühungen, die Aufgaben zu erfüllen, wurden die Aktivitätsmuster im Gehirn der Probanden parallel in einem Elektroenzephalogramm (EEG) aufgezeichnet. „Im Ergebnis konnten wir deutlich unterscheidbare Aktivitätsmuster im Gehirn bei den verschiedenen Verhaltensweisen und Stufen des Werkzeuggebrauchs ähnlich dem früher Menschen erkennen“, erklärt Affinito. „Die Aktivität in den Scheitel- und Stirnlappen des Großhirns vor allem in der Planungsphase zeigt, wie wichtig diese Hirnregionen im Vorfeld für die Ausführung motorischer Bewegungen sind.“
Zwar erforderten beide Aufgaben kognitive Anstrengungen, doch seien beim Einsatz der Schneidewerkzeuge deutlich umfangreichere Hirnaktivitäten aufgetreten als beim Nussknacken, berichtet Karakostis: „Diese Unterschiede heben implizit hervor, welche kognitiven Leistungen bei Präzisionsaufgaben benötigt werden. Sie dürften die frühen Menschen befähigt haben, sich ihre Umwelt anzueignen und sie zu formen, wie es zuvor nicht möglich war.“ Durch die neue Studie sei die Grundlage für weitere Untersuchungen zu den kognitiven Voraussetzungen des technologischen Fortschritts des Menschen geschaffen.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
PD Dr. Fotios Alexandros Karakostis
Universität Tübingen
Institut für Naturwissenschaftliche Archäologie – Paläoanthropologie
Kolleg-Forschungsgruppe 2237 der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Words, Bones, Genes, Tools“
Senckenberg Centre for Human Evolution and Palaeoenvironment (SHEP)
Telefon +49 7071 29-74070
fotios-alexandros.karakostis[at]uni-tuebingen.de
Originalpublikation:
Simona Affinito, Brienna Eteson, Lourdes Tamayo Cáceres, Elena Theresa Moos, Fotios Alexandros Karakostis: Exploring the cognitive underpinnings of early hominin stone tool use through an experimental EEG approach. Scientific Reports, https://doi.org/10.1038/s41598-024-77452-0