Zwischen Heilung und Verbrechen
Ausstellung in Berlin beleuchtet die dunklen Kapitel der NS-Medizingeschichte / Forschungsprojekt des Zentrums für Antisemitismusforschung liefert neue Erkenntnisse
Das Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) präsentieren ab dem 29. November 2024 erstmals die Wanderausstellung „Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“. Die Ausstellung markiert den Abschluss eines von der KBV initiierten Forschungsprojekts des ZfA zur Geschichte ihrer Vorgängerorganisation, der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD). Die KVD war im Nationalsozialismus maßgeblich an der Entrechtung jüdischer sowie oppositioneller Kassenärzte beteiligt.
Einzigartiger Ansatz: Ärzt*innen, Patient*innen und Standesorganisationen im Fokus
„Die Wanderausstellung ‚Systemerkrankung‘ dokumentiert erstmals systematisch das Verhältnis dreier Akteursgruppen: Ärzt*innen, Patient*innen und die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands, die zentrale Standesorganisation der Kassenärzte in der NS-Zeit“, erklärt Kurator Dr. Ulrich Prehn, der das Forschungsprojekt durchgeführt hat.
Während die Rolle der Ärzteschaft zwischen 1933 und 1945 sowie deren Beteiligung an Verbrechen im Nationalsozialismus bereits vergleichsweise gut erforscht ist, waren die Perspektiven der Patient*innen und die der Standesorganisationen bisher weniger im Fokus. „Genau hier setzt die Ausstellung an und liefert wichtige neue Erkenntnisse“, so Prehn.
Historische Fallgeschichten machen die Ausstellung greifbar
Die Ausstellung beleuchtet ein breites Themenspektrum: von der (Selbst-)„Gleichschaltung“ der ärztlichen Standesorganisationen über die Verdrängung jüdischer und oppositioneller Ärzt*innen, Zwangssterilisation und Krankenmord bis hin zu Humanexperimenten in Konzentrationslagern und der medizinischen Versorgung während des Krieges.
Anhand konkreter Schicksale und Fallgeschichten wird die Geschichte lebendig. Beispielsweise erzählt die Ausstellung von Ella Lingens, die als Häftlingsärztin in Auschwitz-Birkenau unter extremen Bedingungen arbeitete, oder vom Künstler Paul Goesch, der im Rahmen der „T4“-Euthanasie-Aktion in der Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel ermordet wurde. Eine weitere Geschichte führt in das Berlin der 1930er Jahre. Im Fokus steht das Grundstück der heutigen Technischen Universität Berlin, auf dem sich einst die psychiatrische Klinik des jüdischen Arztes Dr. Karl Edel befand. Nach massivem Druck durch den Geschäftsführer der KVD-Landesstelle Berlin stimmten die Erben von Dr. Edel 1937 dem Verkauf der Immobilie an die KVD zu. Diese plante dort ein repräsentatives „Haus der deutschen Ärzte“, das allerdings nie realisiert wurde.
Ebenso thematisiert wird die mutige Zivilcourage des Ehepaars Auguste und Karl Gehre, das die Familie ihres jüdischen Hausarztes Dr. Arthur Arndt versteckte und so vor der Deportation rettete.
In einem anderen Fall erfahren die Besucher*innen von dem Schicksal des 17-jährigen Klaus Reichmuth, der zu sechs Monaten „Schutzhaft“ im KZ Sachsenhausen verurteilt war und Hilfe u. a. durch einen polnischen Häftlingspfleger erfuhr – der nach seiner Entlassung Arzt und später Medizinprofessor in Polen wurde.
Neue Erkenntnisse zu NS-Medizinverbrechen
Das 2018 gestartete Forschungsprojekt „Die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands (KVD) im Nationalsozialismus“ ist Grundlage für die Ausstellung. In dessen Rahmen wurde das Historische Archiv der KBV – eine Sammlung von rund 900 umfangreichen Archivalieneinheiten – erstmals systematisch erfasst und ausgewertet.
Dabei konnten bisher unerforschte Aspekte der NS-Medizinverbrechen beleuchtet werden. Beispielsweise zeigt die Ausstellung, wie die ärztliche Schweigepflicht durch die NS-Gesetzgebung sukzessive ausgehöhlt wurde. „Ab 1936 konnte die Schweigepflicht aufgehoben werden, wenn das ‚gesunde Volksempfinden‘ dies verlangte. Auch militärische Interessen der Wehrmacht wurden höher gewichtet als die Rechte einzelner Patient*innen“, erklärt Dr. Prehn.
Multimediale Aufbereitung und persönliche Einblicke
Die Ausstellung kombiniert historische Dokumente, Fotografien und Videos mit Interviews von jüdischen Ärzt*innen oder ihren Nachfahren. An Medienstationen können Besucher*innen Einblicke in visuelle Formen des Antisemitismus erhalten, etwa in die Darstellung jüdischer Ärzte als „Abtreiber“ oder als angeblich sittliche Gefahr für nichtjüdische Patient*innen. Diese Materialien sind bisher wenig kritisch untersucht worden.
Hintergrund: Ärzt*innen im Dienst der NS-Ideologie
Ärzt*innen spielten im Dritten Reich eine Schlüsselrolle. Im Namen der sogenannten Rassenhygiene teilten sie Menschen in „wertes“ und „unwertes“ Leben ein – mit tödlichen Konsequenzen. Zwangssterilisationen, Krankenmorde und grausame Menschenversuche in Konzentrationslagern gehörten ebenso dazu wie die Gleichschaltung ärztlicher Standesorganisationen und die systematische Verdrängung jüdischer Kolleg*innen.
Ausstellungstermine und weitere Informationen
Die Ausstellung ist vom 29. November 2024 bis 28. Januar 2025 in Berlin zu sehen. Anschließend wird sie 2025 und 2026 deutschlandweit bei verschiedenen Kassenärztlichen Vereinigungen gezeigt.
„Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“
Wanderausstellung über Ärzt*innen und Patient*innen im Dritten Reich
Wann: 29. November 2024 – 28. Januar 2025 (kostenlos)
Wochentäglich besuchbar zu den Bürozeiten der KBV (9:00 - 20:00 Uhr)
Wo: Herbert-Lewin-Platz 2, 10623 Berlin, Foyer im Gebäudeteil I
Kurator: Dr. Ulrich Prehn, TU Berlin
Wissenschaftliche Begleitung: Dr. Ulrich Prehn und Sjoma Liederwald, TU Berlin/Zentrum für Antisemitismusforschung
Weiterführende Informationen:
Projektseite beim Zentrum für Antisemitismusforschung https://www.tu.berlin/go151816/
Themenseite: KBV unterstützt Aufarbeitung der NS-Zeit https://www.kbv.de/html/37666.php
Kontakte:
Dr. Ulrich Prehn
Zentrum für Antisemitismusforschung
TU Berlin
E-Mail: prehn@tu-berlin.de