20 Jahre Europäische Aktiengesellschaft in Deutschland: 5 von 6 großen SE vermeiden paritätische Mitbestimmung
EuGH-Urteil verschärft Problem weiter
20 Jahre Europäische Aktiengesellschaft in Deutschland: 5 von 6 großen SE vermeiden paritätische Mitbestimmung
Seit 20 Jahren gibt es in Deutschland die Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft (SE). Ende Dezember 2004 trat das Gesetz in Kraft, das die entsprechende EU-Richtlinie in deutsches Recht umsetzt.
Von den heute gut 700 operativ tätigen SE in der EU sind mehr als 400 deutsche Unternehmen. Für das Arbeitnehmer*innenrecht auf Mitbestimmung ist die SE in Deutschland zu einem großen und ständig weiter wachsenden Problem geworden, zeigt eine neue Studie des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung*: Fünf von sechs (84 Prozent) der aktiven deutschen SE mit mehr als 2000 Beschäftigten im Inland haben keinen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat, wie ihn etwa gleich große Aktiengesellschaften (AG) nach deutschem Recht zwingend haben müssen. In absoluten Zahlen sind das 103 große SE, die zum Stichtag der Untersuchung Ende 2022 paritätische Mitbestimmung ihrer rund 480.000 Beschäftigten vermieden. Dagegen besaßen lediglich 19 große deutsche SE einen Aufsichtsrat, in dem Vertreter*innen der Anteilseigner*innen und der Beschäftigten zahlenmäßig gleich stark vertreten sind. Anzahl und Quote der SE, die Mitbestimmung vermeiden, steigen: Nur zwei Jahre zuvor, 2020, waren es noch 86 von 107 Unternehmen, was einem Vermeider-Anteil von 80 Prozent entsprach.
Ein aktuelles, hoch kontroverses Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) macht es für Unternehmensinhaber künftig noch leichter, über die Rechtsform der SE Mitbestimmungsrechte auszuhebeln. In ihrer Entscheidung haben die Luxemburger Richter*innen aber auch darauf hingewiesen, dass die EU-Mitgliedsstaaten eine Verpflichtung und auch Spielräume haben, gesetzgeberisch zu verhindern, dass die Europäische Rechtsform dazu missbraucht wird, Arbeitnehmer*innen Beteiligungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten. Entsprechend sieht Studienautor und I.M.U.-Unternehmensrechtler Felix Gieseke politischen Handlungsbedarf, „wenn die Sozialpartnerschaft als Garant für starke und krisenfeste Unternehmen auch in Zukunft erhalten bleiben soll.“
„20 Jahre SE in Deutschland sind leider kein Grund zum Feiern, sondern zur Sorge. Und das nicht nur aus Beschäftigtensicht. Denn wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass im Aufsichtsrat mitbestimmte Unternehmen sozial nachhaltiger, wirtschaftlich erfolgreicher sind und besser durch Wirtschaftskrisen oder Umbruchphasen kommen. Arbeitgeber, die Mitbestimmung sabotieren, schwächen damit also auch den Wirtschaftsstandort“, sagt Dr. Daniel Hay, wissenschaftlicher Direktor des I.M.U. (siehe auch den Forschungsüberblick unten**). „Die grassierende Mitbestimmungsvermeidung zusammen mit der Entscheidung und dem impliziten rechtspolitischen Fingerzeig des EuGH muss ein Anlass sein, die enormen Schwächen in der SE-Gesetzgebung zu beheben. Die nächste Bundesregierung sollte das als Teil einer Initiative tun, die soziale Marktwirtschaft wieder zu stärken, indem sie Mitbestimmungsrechte unabhängig von Unternehmensrechtsformen verankert.“
Anders als bei einer deutschen AG oder GmbH, in denen die Mitbestimmungsgesetze ab 501 bzw. 2001 inländischen Beschäftigten den Arbeitnehmer*innen ein Drittel bzw. die Hälfte der Sitze im Aufsichtsrat garantieren, gelten bei der SE zwei Grundsätze: Mitbestimmung ist Verhandlungssache zwischen Management und Beschäftigten im Unternehmen und: Der zum Zeitpunkt der SE-Gründung festgeschriebene Mitbestimmungs-Status bleibt im Zweifel für immer. Wachsende Unternehmen, die die Beteiligung der Arbeitnehmer*innen dauerhaft verhindern wollen, können die Rechtsform hin zur SE wechseln, wenn sie sich den einschlägigen „Schwellenwerten“ bei den Beschäftigtenzahlen nähern. Geschieht das bei Unternehmen mit deutscher Rechtsform, die bis zu 500 Arbeitnehmer*innen beschäftigen, also zu einem Zeitpunkt wo auch dort noch kein Anspruch auf Arbeitnehmer*innenbeteiligung im Aufsichtsrat besteht, kann dieser Zustand dauerhaft festgeschrieben werden, egal, wie groß das Unternehmen nachträglich noch wird. Fachleute bezeichnen dieses Vorgehen auch als „Einfrieren“.
– Viele Mitbestimmungsvermeider sind in Familienhand – und etliche konzentrieren sich aufs Inland –
Diese Lücke haben die 103 mitbestimmungsvermeidenden SE-Unternehmen mit mehr als 2000 Beschäftigten in Deutschland ausgenutzt, wobei 68 von ihnen als SE firmieren und weitere 35 die verwandte aber eigenständige Rechtsform einer SE & Co. KG verwenden. Unter den 103 sind mit Zalando und Vonovia sogar zwei Mitglieder des Dax40. Hinzu kommen zahlreiche große und bekannte Firmen wie Tesla Deutschland, BionTech, die Alloheim Senioren-Residenzen, Sixt Autovermietung, die Schön Kliniken, der Werkzeughersteller Festo, Deichmann, der Mischkonzern Freudenberg oder Kötter Personaldienstleistungen. Ende 2022 waren in den 103 Unternehmen laut I.M.U.-Studie mindestens rund 480.000 Beschäftigte um die paritätischen Mitbestimmungsrechte gebracht, die ihnen bei deutscher Rechtsform nach den Mitbestimmungsgesetzen zustehen würden. Hinzu kommen Zigtausende Arbeitnehmer*innen in 70 SE mit 501 bis 2000 Beschäftigten, die keinen Aufsichtsrat mit Drittelbeteiligung haben.
Besonders pikant: Ein erheblicher Teil der großen „Euro-AGs“ ohne paritätischen Aufsichtsrat hat gar keine wesentliche wirtschaftliche Tätigkeit über europäische Grenzen hinweg, für die die SE eigentlich gedacht ist. Ihre Beschäftigten arbeiten überwiegend in Deutschland. Allein unter den 68 mitbestimmungsvermeidenden „reinen“ SE mit mehr als 2000 Beschäftigten gilt das nach der I.M.U-Studie für rund ein Drittel. Und fast zwei Drittel unter den 68 sind in Familienbesitz.
– Nach EuGH-Entscheid lässt sich sogar bestehende Mitbestimmung per SE abschaffen –
Der EuGH-Entscheid zum Fall „Olympus“ hat noch eine zusätzliche Flanke mit gravierenden potenziellen Konsequenzen eröffnet. Denn bei allen Schwächen der Gesetzeslage galt bisher, dass der einmal erreichte Mitbestimmungsstatus weitgehend erhalten blieb, wenn ein großes Unternehmen aus einer deutschen Rechtsform zur SE umgewandelt wurde. So war es bei den aktuell 19 SE mit paritätisch mitbestimmtem Aufsichtsrat: Diese etablierten Unternehmen hatten bereits vor dem Rechtsformwechsel mehr als 2000 Beschäftigte. Mit der neuen Rechtsprechung macht der EuGH nun aber auch das Aushebeln bestehender Mitbestimmung an der Konzernspitze möglich.
Das Urteil stößt bei dem I.M.U.-Expertenteam auf Kritik. Schließlich war bei Einführung der SE vor zwei Jahrzehnten ausdrücklich festgehalten worden, dass die damals neue Rechtsform nicht missbraucht werden dürfe, um Arbeitnehmer*innen Beteiligungsrechte zu nehmen oder vorzuenthalten. Daher sei es unerlässlich und europarechtskonform möglich, das Beteiligungsgesetz entsprechend zu präzisieren, sagt Gieseke.
Die neu entstandene Lücke zu schließen, sei wichtig, reiche aber längst nicht aus, betont I.M.U.-Direktor Daniel Hay. Arbeitgebende könnten heute zahlreiche rechtliche Schlupflöcher nutzen, um Mitbestimmung auszuhebeln. Und immer mehr ignorieren nach I.M.U.-Studien gleich ganz die geltenden Gesetze, die bislang nicht durch wirksame Sanktionen bewehrt sind.*** „Wir brauchen einen wirksamen und umfassenden Mitbestimmungsschutz“, sagt der Jurist. „Nötig dafür ist der politische Wille. Detaillierte Konzepte liegen längst vor.“
Dazu zählen im Wesentlichen die folgenden Reformen:
• Bei der SE kann der nationale Gesetzgeber das „Einfrieren“ auf einem Status ohne oder mit geringer Mitbestimmung durch taktische Umwandlung in einem frühen Stadium verhindern. Konkret heißt das: Steigt nach erfolgter Umwandlung in eine SE die Beschäftigtenzahl im Laufe der Zeit über die Schwellenwerte von 500 bzw. 2000 Beschäftigten, muss es die Chance geben, dass Mitbestimmungsrechte entsprechend mitwachsen. Ein Rechtsgutachten von Prof. Dr. Rüdiger Krause von der Universität Göttingen für das I.M.U. zeigt, dass auch das europarechtskonform möglich ist. SPD, Grüne und FDP hatten in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, das Problem anzugehen, waren bis zum Bruch der Koalition aber nicht tätig geworden.
• Eine gesetzlich bindende Klarstellung, dass die Mitbestimmungsgesetze für alle kapitalistisch strukturierten Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten in Deutschland gelten. Anders als heute könnte dann etwa die Mitbestimmung auch nicht mehr dadurch ausgehebelt werden, dass ein Wirtschaftsunternehmen in einer Rechtskonstruktion mit einer Stiftung firmiert oder eine hybride Konstruktion mit deutscher und ausländischer Rechtsform wählt, die noch nicht existierte, als die Gesetze vor knapp 50 Jahren erlassen wurden. Der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Achim Seifert, Juraprofessor an der Universität Jena, hat dafür einen Gesetzentwurf ausgearbeitet.
• Schließung der „Drittelbeteiligungslücke“. Diese führte beispielsweise dazu, dass im Wirecard-Aufsichtsrat keine Beschäftigtenvertreter*innen als Kontrollinstanz vertreten waren. Die Lücke beruht darauf, dass im Drittelbeteiligungsgesetz keine automatische Konzernzurechnung von Beschäftigten aus Tochterunternehmen vorgesehen ist. Ein Konzern bleibt daher ohne jede Arbeitnehmer*innenbeteiligung im Aufsichtsrat, wenn er sich in eine Holding und verschiedene Töchter aufgliedert, die jeweils maximal 500 Beschäftigte haben und die nicht über formale „Beherrschungsverträge“ miteinander verbunden sind – auch wenn die verschiedenen abhängigen Unternehmen zusammengenommen weit mehr als 500 Beschäftigte haben. Auch hier hatte die Bundesregierung Verbesserungen versprochen, aber bislang nicht umgesetzt.
• Unternehmen, die Mitbestimmungsgesetze rechtswidrig nicht anwenden, müssen effektiv sanktioniert werden bzw. die Durchsetzung der Mitbestimmung muss erleichtert werden.
• Die EU-Kommission sollte eine Rahmenrichtlinie verabschieden, die europaweit generelle Mindeststandards für die Arbeitnehmer*innenpartizipation setzt. Die Beteiligung der Arbeitnehmer*innen müsse als Kernelement der europäischen Corporate Governance verankert werden.
• Die Forderungen zum Schutz der Mitbestimmung gilt es auch bei dem Vorhaben der EU-Kommission zur Schaffung eines sog. 28sten Regimes zu beachten.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dr. Daniel Hay
Wissenschaftlicher Direktor I.M.U.
Tel. 0211-7778-217
E-Mail: Daniel-Hay@boeckler.de
Felix Gieseke
I.M.U., Experte für Unternehmensrecht
Tel. 0211-7778-311
E-Mail: Felix-Gieseke@boeckler.de
Dr. Sebastian Sick
I.M.U., Experte für Unternehmensrecht
Tel. 0211-7778-257
E-Mail: Sebastian-Sick@boeckler.de
Rainer Jung
Leiter Pressestelle
Tel.: 0211-7778-150
E-Mail: Rainer-Jung@boeckler.de
Originalpublikation:
*Felix Gieseke: Mitbestimmungsvermeidung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) – 5 von 6 großen SEs vermeiden paritätische Mitbestimmung. I.M.U. Mitbestimmungsreport Nr. 82, November 2024. Download: https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?produkt=HBS-009004
**Wirtschaftlich erfolgreicher, resilienter in Wirtschaftskrisen, höhere Produktivität, mehr Investitionen: Forschungsüberblick zur ökonomischen Wirkung von Mitbestimmung in Aufsichtsräten und durch Betriebsräte: https://www.imu-boeckler.de/data/Hans-Boeckler-Stiftung_Mitbestimmung_Gestaltungsprinzip-der-.pdf
***Sebastian Sick: Erosion der Unternehmensmitbestimmung. Zur Mitbestimmung und Mitbestimmungsvermeidung in Deutschland, I.M.U. Mitbestimmungsreport Nr. 81, Juni 2024. Download: https://www.boeckler.de/de/faust-detail.htm?produkt=HBS-008879