Tabuthema Behinderung: von Ängsten und gesellschaftlichen Defiziten (UN-Tag 3.12.)
Am 3. Dezember ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Er soll auf die Belange von Menschen mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen aufmerksam machen. Warum das wichtig ist, erklärt Sozialpädagoge Mathias Stübinger, stellvertretender Studiengangsleiter im Bachelor Soziale Arbeit der Hochschule Coburg und auch Beauftragter der Hochschule für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung. Bevor er 2008 hauptamtlich an die Hochschule wechselte, arbeitete er beispielsweise in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung und in einer Koplex-Einrichtung mit angeschlossenem Wohnheim. Heute lehrt er unter anderem zu Sozialer Arbeit mit Menschen mit Behinderung.
Wofür braucht’s einen Tag der Menschen mit Behinderung?
Mathias Stübinger: Es ist wie bei vielen anderen Gedenk- und Erinnerungs-Tagen: Sie machen auf Themen aufmerksam, die im Bewusstsein der Gesellschaft wenig verankert sind. Uns begegnen in der Regel ja kaum Menschen mit Behinderung. Es gibt Sondereinrichtungen, besondere Plätze, wo sie sind. Ich meine das nicht abwertend, denn für viele sind das geschützte Einrichtungen. Aber es führt auch dazu, dass Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft kaum sichtbar sind. Meine Frau und ich arbeiten in diesem Bereich, unsere Kinder kennen das Thema, weil wir sie auch sehr früh mit auf die Arbeit genommen haben. Aber viele ihrer Freunde sind noch nie bewusst einem Menschen mit Behinderung begegnet. Natürlich kommt irgendwo im Fernsehen mal eine Person mit Handicap vor oder es gibt mal eine Begegnung im Zug – aber Begegnungen im normalen Leben, im Schul- oder Arbeitsalltag: Die gibt es kaum. Die meisten Menschen setzen sich nicht mit Behinderung auseinander.
Hat das mit unserer Angst vor Verletzlichkeit zu tun?
Das spielt schon eine Rolle. Wir blenden ja auch gerne aus, dass wir alle mal alt werden und wahrscheinlich – wenn wir ein gewisses Alter erreichen – auch Formen von Handicaps und Barrieren erleben werden. Selbst wenn man heutzutage auch in dörflichen Gegenden öfter einen ambulanten Pflegedienst sieht, berührt es einen erst, wenn es die eigene Familie betrifft. Dass Menschen mit Behinderung nicht so sichtbar sind, liegt aber auch daran, dass sie meist nicht so offensiv nach außen auftreten. Viele möchten zum Beispiel nicht öffentlich in Interviews darüber sprechen. Ich lehre an der Hochschule Coburg in einem Vertiefungsmodul zu Menschen mit Behinderung im Studiengang „Soziale Arbeit“ und da haben wir hin und wieder behinderte Menschen zu Gast, die von ihren Erfahrungen berichten. Das ist immer sehr eindrücklich. Aber die Menschen wollen nicht auf ihre Behinderung reduziert werden.
Wird ein altersbedingtes Handicap anders wahrgenommen als eine angeborene Behinderung?
Wenn jemand eine Armbinde für Blinde hat oder wir erleben, wie ein hörbehinderter Mensch in einem Café in Gebärdensprache mit anderen kommuniziert, sind das sichtbare Behinderungen. Und es sind körperliche Behinderungen. Ja, da haben wir eine andere Wahrnehmung – das sieht man zum Beispiel auch im Sport: Die Paralympics werden mittlerweile im Fernsehen präsent übertragen, teilweise sogar live. Die Special Olympics mit Menschen mit geistiger Behinderung werden in der Mitte der Gesellschaft bei Weitem nicht so wahrgenommen. Auch im Arbeitskontext ist es sehr viel einfacher, jemanden im Rollstuhl zu vermitteln als jemanden mit einer geistigen Behinderung. Und wenn wir bei uns an der Hochschule an Studierende mit Körperbehinderung denken, dann sind Dinge wie Treppen, Türen oder die Bedienelemente im Fahrstuhl Thema. Bei einem Menschen mit geistiger Behinderung geht es zum Beispiel um eine leichte Sprache in Vorträgen oder Vorlesungsskripten. Das ist deutlich komplexer.
Es gibt Menschen mit geistiger Behinderung, die ein Hochschulstudium schaffen?
Wir haben an der Hochschule Coburg vereinzelt Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung. Das wird eher in den Bereich seelischer Behinderungen eingeordnet, aber diese Zuordnung ist für mich nachrangig. Vorrangig schaue ich nach dem Hilfebedarf. Diese Menschen haben Schwierigkeiten im Bereich Interaktion und Kommunikation, aber auf der anderen Seite vielleicht eine Spezialbegabung im mathematischen oder physikalischen Bereich und das kann in einem akademischen Studium mit entsprechender Hilfe gut funktionieren. Es gibt auch Beispiele von Menschen mit Trisomie 21, dem „Down-Syndrom“, die einen Hochschulabschluss machen – allerdings sehr wenige. Ich kenne das zum Beispiel durch YouTube-Kanäle. Da braucht es einfach unglaublich viel Unterstützung. Wenn man Inklusion richtig denkt, müssten wir uns dafür öffnen. Aber die Barrieren entstehen schon viel früher: Die Menschen bräuchten ja erst einmal eine Hochschulzugangsberechtigung, also beispielsweise Abitur.
Inklusive Schule ist also ein Thema ... Fast jeder zehnte Mensch in Deutschland hat eine schwere Behinderung. Wo liegen die großen Defizite bei der gleichberechtigten Teilhabe?
Inklusive Schule ist ein großes Thema – aber es gibt zwei Perspektiven: Sonder-Einrichtungen haben etwas Ausgrenzendes, andererseits sind sie für viele auch ein sicherer Ort. Es gibt auch Studien denen zufolge Menschen mit Lernbehinderung zum Beispiel auf einer Sonderschule positive Erfahrungen gemacht haben. Und es gibt Studien nach denen sich behinderte Menschen in einer inklusiven Schule total abgehängt fühlten und genau wussten, dass sie in der Hierarchie der Gruppe „ganz weit unten“ sind. Die Menschen haben unterschiedliche Erfahrungen, auch unterschiedliche Bedarfe. Bildungschancen insgesamt sind aber sehr wichtig. Ein Riesenthema ist der Zugang zum Arbeitsmarkt. Die meisten Menschen mit geistiger Behinderung arbeiten in einer Werkstatt. Viele Nicht-Behinderte wissen nicht, was da für Maschinen stehen, welche Produktionsketten aufgebaut werden - die behinderten Menschen könnten genauso gut am Fließband im Betrieb arbeiten. Aber die Unternehmen zahlen oft lieber die Ausgleichsabgabe, als einen Menschen mit Behinderung einzustellen. Das Label „Behinderung“ ist mit vielen Vorurteilen verbunden. Bauliche Barrieren lassen sich per Verordnung abbauen – bei den Barrieren in den Köpfen geht das nicht.
Interview: Natalie Schalk