Vor dem Gesetz sind alle gleich – oder etwa nicht?
Neue Studie zu administrativer Ungleichbehandlung von Menschen mit Migrationshintergrund.
Wie Behörden und Gerichte in den einzelnen Bundesländern und Kommunen über Anliegen von Personen mit Migrationshintergrund entscheiden, hängt in erheblichem Maße von regionalen politischen Bedingungen sowie der politischen Einstellung der entscheidenden Personen ab. Gleiche Anliegen von Personen mit identischer Rechtsstellung werden im bundesweiten Vergleich zum Teil erheblich unterschiedlich behandelt. Das ist das Ergebnis einer Analyse von Forscher*innen des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality” an der Universität Konstanz.
Das deutsche Grundgesetz regelt: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ (GG, Art. 3, Abs. 1). Doch macht es einen Unterschied, wo in Deutschland man sich an Ämter, Behörden oder Gerichte wendet? Forscher*innen um den Konstanzer Politikwissenschaftler Gerald Schneider untersuchten die administrative Ungleichbehandlung von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft und Angehörigen von Minderheiten in Deutschland. Administrative Ungleichbehandlung meint dabei die unterschiedliche Beurteilung gleicher Anliegen von Personen mit identischer Rechtsstellung durch Ämter, Behörden oder Gerichte.
Für das Policy Paper „Zur falschen Zeit am falschen Ort? Administrative Ungleichbehandlung in der deutschen Justiz und Verwaltung”, das der Exzellenzcluster zusammen mit dem Berliner Think-Tank Das Progressive Zentrum veröffentlicht, betrachteten die Wissenschaftler*innen bundesweit die Entscheidungen der Außenstellen und Ankunftszentren des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), der 48 Verwaltungsgerichte, der Jobcenter sowie auf Kreisebene der Einbürgerungsbehörden.
Ungleichbehandlung auf außerrechtliche Faktoren zurückzuführen
Dabei stellten sie erhebliche regionale Unterschiede bei Entscheidungen über Asylgesuche, Sanktionsmaßnahmen im Bürgergeldbezug sowie – vor der Revision des Staatsbürgerschaftsrechts im Sommer 2024 – in Fragen der doppelten Staatsangehörigkeit fest. Dies weist auf unterschiedliche administrative Praktiken und auch auf variierende rechtliche Auslegungen hin.
„Diese auffälligen Differenzen in administrativen und richterlichen Entscheidungen, z. B. bei Asylgesuchen, sind in erheblichem Ausmaß auf extra-legale Faktoren zurückzuführen“, erläutert Gerald Schneider, Professor für Internationale Politik und Principal Investigator am Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“. „Damit meinen wir beispielsweise die Einstellung der Bevölkerung zu Migration oder die politische Einstellung der Behörden-Mitarbeiter*innen. Hinzu kommt, dass eine ausgrenzende, migrationsfeindliche Medienberichterstattung diskriminierende Tendenzen verstärkt.“
Dezentrale Politikgestaltung als Problem
Für das Ausmaß der Ungleichbehandlung spielen Ermessensspielräume eine Rolle, zum Beispiel in Hinblick auf Sanktionierungen im Bürgergeldbezug oder – bis zum Sommer 2024 – in Fragen der (doppelten) Staatsbürgerschaft. „Die administrative Ungleichbehandlung ist vor allem in jenen Politikbereichen stoßend, in denen die regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften über keinen Ermessensspielraum im Vollzug bundesstaatlicher Gesetze verfügen“, so Politologe Schneider. Das ist etwa bei der Bearbeitung von Asylgesuchen der Fall, bei denen das Völker- und Europarecht sowie das Asylgesetz den verbindlichen Entscheidungsrahmen für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) setzen.
Wenn bundesstaatliche Normen so unterschiedlich vollzogen werden, dass dabei administrative Ungleichheit entsteht, würden Föderalismus und Dezentralisierung zum Problem, folgern die Autor*innen des Papers. Dabei sind Föderalismus und Dezentralisierung eigentlich Organisationsprinzipien, die die Anpassung von Politikgestaltung an regionale Unterschiedlichkeiten ermöglichen und die Effizienz von Politikgestaltung steigern sollen.
Faktenübersicht
• Originalpublikation: Schneider, G., Lüdecke, M, Rueß, S. (2024). „Zur falschen Zeit am falschen Ort? Administrative Ungleichbehandlung in der deutschen Justiz und Verwaltung“. Policy Paper Nr. 18, The Politics of Inequality.
• Die Policy Papers Reihe liefert der Öffentlichkeit praxisorientierte Informationen und politischen Entscheider*innen Handlungsempfehlungen zu aktuellen Themen der Ungleichheitsforschung.
• Autor*innen:
oGerald Schneider ist Professor für Internationale Politik an der Universität Konstanz und Principal Investigator am Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“.
oMaren Lüdecke ist Doktorandin an der Graduate School of Social and Behavioral Sciences (GSBS) und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Konstanz im Projekt „Administrative Ungleichheit: Ausländische Staatsbürger in Deutschland (AdmIn)“ des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“.
oStefanie Rueß ist Doktorandin an der Graduate School of Social and Behavioral Sciences (GSBS) und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Konstanz im Projekt „Vorurteile und Stereotypisierungen in Jobcentern?“.
•Die Ergebnisse basieren auf Daten, die weder öffentlich zugänglich noch Teil der amtlichen Statistik sind. Sie wurden durch die Forscher*innen bei den Zweigstellen des BAMF, den Landesjustizministerien und der Bundesagentur für Arbeit eingeholt bzw. bei den Landesämtern für Statistik zum Teil käuflich erworben.
•Die Veröffentlichung des Policy Papers erfolgt in Zusammenarbeit zwischen dem Exzellenzcluster „The Politics of Inequality” an der Universität Konstanz und dem Berliner Think-Tank Das Progressive Zentrum.
•Der Exzellenzcluster „The Politics of Inequality” an der Universität Konstanz erforscht aus interdisziplinärer Perspektive die politischen Ursachen und Folgen von Ungleichheit. Die Forschung widmet sich einigen der drängendsten Themen unserer Zeit: Zugang zu und Verteilung von (ökonomischen) Ressourcen, der weltweite Aufstieg von Populist*innen, Klimawandel und ungerecht verteilte Bildungschancen.
Hinweis an die Redaktionen
Bilder können im Folgenden heruntergeladen werden:
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Bildunterschrift: Gerald Schneider, Professor für Internationele Politik und Principal Investigator am Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ an der Universität Konstanz. Bild: Ines Janas.
• https://www.uni-konstanz.de/fileadmin/pi/fileserver/2024_EXTRA/policy_paper_18/luedecke.jpg
• Bildunterschrift: Maren Lüdecke, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Administrative Ungleichheit: Ausländische Staatsbürger in Deutschland (AdmIn)“ des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“. Bild: Ines Janas.
• https://www.uni-konstanz.de/fileadmin/pi/fileserver/2024_EXTRA/policy_paper_18/ruess.jpg
Bildunterschrift: Stefanie Rueß, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Konstanz im Projekt „Vorurteile und Stereotypisierungen in Jobcentern?“. Bild: Inka Reiter.