Zielgerichtete Therapie gegen Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis in Sicht – mit Potenzial zur Demenztherapie
Eine tierexperimentelle Studie konnte die Bindungsstelle von pathogenen Autoantikörpern, die eine Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis auslösen, genauer identifizieren und testete einen Antikörper, der exklusiv an dieser Subdomäne des NMDA-Rezeptors angreift. Die Symptome gingen zurück, so dass die Hoffnung besteht, Betroffenen vielleicht schon in wenigen Jahren eine zielgerichtete Therapie anbieten zu können. Was diese experimentellen Daten darüber hinaus so interessant macht: Anti-NMDA-Rezeptor-Antikörper spielen auch bei Demenzen eine Rolle, so dass die neue Therapie bei einem nennenswerten Anteil der Betroffenen ein nebenwirkungsarmer Weg aus dem Vergessen sein könnte.
Die Anti-NMDA (N-Methyl-D-Aspartat)-Rezeptor-Enzephalitis wurde erstmals 2007 beschrieben. Es handelt sich dabei um eine relativ seltene, aber schwere Autoimmunerkrankung, von der meistens junge Frauen betroffen sind. Gehirnentzündungen, sogenannte Enzephalitiden, werden ansonsten meist von Erregern ausgelöst, zum Beispiel durch das Herpes simplex-Virus oder das Epstein-Barr-Virus. Bei der Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis entsteht die Entzündung dadurch, dass das Immunsystem Antikörper gegen NMDA-Rezeptoren im Gehirn, die für die Signalübertragung bedeutsam sind, bildet. Wie bei anderen Autoimmunerkrankungen richtet sich das Immunsystem also „fälschlicherweise“ gegen körpereigene Strukturen und stört so wichtige Funktionen von Nervenzellen wie Lernen, Neuroplastizität, Erinnerung und Bewegung. Die neurologischen und psychiatrischen Folgen sind mitunter fulminant: Es kommt zu unwillkürlichen Bewegungen (Hyperkinesien), epileptischen Anfällen, Störungen des vegetativen Nervensystems (autonome Dysregulation) oder Mutismus (die Betroffenen können nicht mehr sprechen, obwohl rein organisch die Sprechfähigkeit vorhanden ist). Noch auffälliger und verstörender sind die psychiatrischen Symptome, darunter Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Angstzustände und Verhaltensänderungen. Häufig leiden die Betroffenen auch unter kognitiven Einschränkungen, welche zu bleibenden Schäden in Form von demenziellen Syndromen führen können.
Die Erkrankung galt lange Zeit als „rätselhaft“. Wie dramatisch und albtraumhaft sie für die Betroffenen ist, hat die US-Autorin Susannah Cahalan in ihrem Buch „Feuer im Kopf“ beschrieben. Der, zumindest in Deutschland, berühmteste „Patient“ ist aber wohl Eisbär Knut aus dem Berliner Zoo: Er ertrank bei einem durch die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis ausgelösten epileptischen Anfall im Wasser seines Habitats.
Prof. Dr. Harald Prüß, Berlin, Sprecher der DGN-Kommission Neuroimmunologie, hebt hervor: „Wir gehen davon aus, dass in der Vergangenheit durchaus Betroffene als psychisch krank bzw. schlichtweg ‚verrückt‘ eingestuft und ohne Aussicht auf Heilung in Nervenheilanstalten verwahrt wurden. Diese Vorstellung ist aus heutiger Sicht beklemmend, denn wir wissen, dass die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis behandelbar ist. Insofern ist diese Erkrankung ein echtes Erfolgsbeispiel der neurologischen Grundlagenforschung: Mit dem Verständnis des krankheitsauslösenden Mechanismus konnten Therapien angeboten werden – und die Therapien werden immer spezifischer.“
Seit Aufdeckung des Krankheitsmechanismus wird das „fehlgeleitete“ Immunsystem mit Immunsuppressiva, wie z. B. Glukokortikoiden, intravenösen Immunglobulinen oder Chemotherapien, unterdrückt. Sie können jedoch schwere Nebenwirkungen mit sich bringen, da sie das gesamte Immunsystem „herunterfahren“ und nicht spezifisch wirken. Eine zweite Behandlungsmöglichkeit ist, die krankheitsauslösenden Antikörper mittels Blutwäsche (sog. therapeutische Apherese) aus dem Körper zu entfernen. Diese Therapie ist aber nicht nachhaltig, da das Immunsystem kontinuierlich neue Anti-NMDA-Rezeptor-Antikörper bildet.
Die Forschung arbeitet daher seit einigen Jahren an kausalen Therapien, die zielgenau in den Krankheitsmechanismus eingreifen und somit nebenwirkungsärmer sind. Ein eindrucksvolles Beispiel war 2023 die selektive Zerstörung genau der Antikörper-produzierenden Zellen (sogenannte B-Zellen) im Tiermodell, die Anti-NMDA-Rezeptor-Antikörper produzieren [1]. Aktuell wurden neue experimentelle Daten [2] veröffentlicht, die einen weiteren Schritt in diese Richtung darstellen. Es konnte gezeigt werden, dass die krankhaften Autoantikörper an einer bestimmten Untereinheit des NMDA-Rezeptors (GluN1-NTD) binden und vermutlich darüber pathogen wirken, dass sie benachbarte NMDA-Rezeptoren untereinander verbinden und zu ihrer Internalisierung führen. Das bedeutet, dass die Neurotransmitter-Rezeptoren ins Zellinnere verlagert werden, wo sie ihre Funktion nicht mehr ausüben können. Die Domäne GluN1-NTD stellt damit ein vielversprechendes Therapieziel dar. Die Forschenden „bauten“ daraufhin den humanisierten monovalenten Antikörper ART5803, der genau diese Untereinheit des NMDA-Rezeptors mit einer hohen Affinität bindet, ohne die NMDAR-Aktivität zu beeinträchtigen oder eine Internalisierung zu bewirken.
Im Tiermodell wurde gezeigt, dass humane pathogene Autoantikörper Verhaltens- und Bewegungsstörungen wie bei einer Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis hervorrufen. Durch die Gabe von ART5803 (als intrazerebroventrikuläre Infusion oder als intraperitoneale Injektion) wurden die Symptome zurückgedrängt. Auch das im Tiermodell beobachtete pharmakokinetische Profil ließ darauf schließen, dass mit ART5803 ein vielversprechender Wirkstoffkandidat zur Verfügung steht, so dass bei Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis vielleicht schon in wenigen Jahren eine kausale, zielgerichtete Therapie angeboten werden kann, anstelle der nebenwirkungsreichen Immunsuppression.
Wie Prof. Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der DGN, hervorhob, ist das Potenzial dieser spezifisch gegen Anti-NMDA-Rezeptor-Antikörper gerichteten Therapien nicht nur deswegen relevant, weil die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis die häufigste Form der Autoimmun-Enzephalitiden darstellt, sondern womöglich noch viel weitreichender: Auf dem amerikanischen Neurologiekongress wurde im April diesen Jahres eine niederländische Studie [2] vorgestellt, die Autoimmunenzephalitiden als häufigste Ursache für rasch fortschreitende, behandelbare Demenzen ausmachte. Wurde diese Grunderkrankung behandelt, stellte sich auch eine klinische Verbesserung in Bezug auf die kognitiven Beeinträchtigungen ein. Allein 15 % der rasch voranschreitenden Demenzen waren in dieser Erhebung auf eine Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis zurückzuführen. Bereits vor elf Jahren hatten auch Prüß und Kollegen [4] gezeigt, dass bei gut 16 % der Betroffenen mit einer Demenz verschiedener Ursachen Antikörper gegen NMDAR im Serum nachweisbar waren.
„Wir sollten daher nicht nur bei Patientinnen und Patienten mit auffälligem, psychotischem Verhalten und den typischen Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis-Symptomen nach NMDAR-Antikörpern ‚fahnden‘, sondern auch bei Menschen, die sich mit Demenzen unklaren Ursprungs vorstellen. Auch für sie könnten perspektivisch GluN1-NTD-spezifische Antikörper in Frage kommen“, so das Fazit von Prof. Berlit.
[1] Reincke SM, von Wardenburg N, Homeyer MA et al. Chimeric autoantibody receptor T cells deplete NMDA receptor-specific B cells. Cell. 2023 Nov 9;186(23):5084-5097.e18. doi: 10.1016/j.cell.2023.10.001. Epub 2023 Nov 1. PMID: 37918394.
[2] Kanno A, Kito T, Maeda M et al. Monoclonal humanized monovalent antibody blocking therapy for anti-NMDA receptor encephalitis. Nat Commun. 2025 Jun 17; 16 (1): 5292. doi: 10.1038/s41467-025-60628-1
[3] van Steenhoven R, Bastiaansen D, de Vries J et al. Autoimmune Encephalitis Is the Most Common Treatment-Responsive Cause of Rapidly Progressive Dementia; a Large Dutch Prospective Cohort Study.
https://index.mirasmart.com/AAN2025/PDFfiles/AAN2025-003386.html; siehe auch: https://www.dgn.org/artikel/autoimmun-enzephalitis-ist-die-haufigste-ursache-fur-eine-rasch-fortschreitende-demenz
[4] Doss S, Wandinger KP, Hyman BT et al. High prevalence of NMDA receptor IgA/IgM antibodies in different dementia types. Ann Clin Transl Neurol. 2014 Oct; 1 (10): 822-32. doi: 10.1002/acn3.120.
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Originalpublikation:
doi: 10.1038/s41467-025-60628-1
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