Mathe, wie furchtbar! Wie sich Bruchrechnen vielleicht besser vermitteln lässt
Interview mit Prof. Dr. Frank Reinhold, Pädagogische Hochschule Freiburg, Stipendiat der Daimler und Benz Stiftung
Bruchrechnen lernen Schüler im Mathematikunterricht der sechsten Klasse. Allerdings ist diese Materie extrem anspruchsvoll, denn sie bricht erstmals mit den bislang erlernten Kenntnissen über natürliche Zahlen. Inwieweit digitale Methoden hier Lernerleichterungen schaffen können, hat der Mathematikdidaktiker Frank Reinhold im Forschungsprojekt „Motivated Action in Learning Fractions with Digital Tools“ untersucht, das im Rahmen des Stipendienprogramms für Postdoktoranden und Juniorprofessoren der Daimler und Benz Stiftung mit einer Summe von 40.000 Euro gefördert wird.
Stiftung: Herr Prof. Reinhold, Sie sind eigentlich ausgebildeter Lehrer. Weshalb haben Sie das Klassenzimmer verlassen und sich der fachdidaktischen Forschung gewidmet?
Reinhold: Das war ein Prozess während meines Referendariats. Als ich erstmals eigenständig Unterricht gehalten habe, ist mir aufgefallen, dass ich Unterrichtsmethoden aus den Schulbüchern relativ unreflektiert übernommen habe. Also stellte ich mir Fragen: Wie viel Mathematikwissen kommt eigentlich bei den Kindern an? Wie lassen sich ideale Unterrichtsentwürfe erstellen? Parallel zum Schuldienst habe ich mich in meiner Promotion der Mathematikdidaktik gewidmet und habe eine erste digitale Lernumgebung mitentwickelt. Seitdem möchte ich Studentinnen, Studenten und Lehrkräften eine Perspektive geben, wie Mathematikunterricht evidenzbasiert vorbereitet werden kann. Schließlich soll der Unterricht auch Früchte tragen.
Stiftung: Könnten Sie in Kurzform beschreiben, woran Sie forschen?
Reinhold: Wir wissen ziemlich gut, was Schülerinnen und Schülern in der sechsten Klasse als Wissen vermittelt werden muss, um Bruchrechnen zu lernen und typische Fehler gar nicht erst aufkommen zu lassen. Aber auf welchem Weg kann ich das transportieren, mit welchen Zugängen gelingt das besonders gut? Daran forschen wir und setzen auf Lernkonzepte, die sich am tatsächlichen Verständnis messen lassen und gleichzeitig die Motivation hochhalten.
Stiftung: Warum haben Schüler überhaupt so häufig Probleme mit Mathematik?
Reinhold: Ich führe das einmal am Beispiel der Bruchrechnung aus: Bis zur sechsten Klasse haben sie nur mit natürlichen Zahlen operiert, wofür bestimmte Mechanismen erlernt wurden. Aber genau diese werden beim Arbeiten mit Brüchen nun über den Haufen geworfen. Nehmen wir zum Beispiel das Produkt 1/3 mal 3/4: Bei natürlichen Zahlen vergrößert Multiplizieren stets eine Zahl, während die genannte Aufgabe zeigt, dass Produkte beim Bruchrechnen auch kleiner sein können als die beiden Faktoren. Das führt bei vielen Schülerinnen und Schülern zu kognitiven Konflikten.
Stiftung: Hätten Sie noch ein weiteres Beispiel?
Reinhold: Ja, das Zählen: Bei natürlichen Zahlen gibt es das sogenannte Nachfolgerprinzip, nach der 5 kommt die 6, aber die rationalen Zahlen liegen dicht beieinander. Deshalb braucht man ein altersgerechtes Konzept, das vermittelt, warum nach 3/5 nicht einfach 4/5 kommt, sondern beliebig viele rationale Zahlen dazwischen liegen. Beide Beispiele zeigen, dass das Unterrichtsziel nicht nur die Vermittlung neuer Konzepte sein sollte. Es muss auch der Gültigkeitsbereich des „alten“ Wissens „abgeschwächt“ werden.
Stiftung: Ist das den Mathematiklehrern bewusst?
Reinhold: Implizit ja, doch die Frage ist, ob es explizit seinen Weg in den Mathematikunterricht findet – und das passiert tatsächlich nicht immer. Deshalb ist ein zentraler Teil unserer fachdidaktischen Lehrkräfteausbildung auch eine „Fehlerempathie“ in Bezug auf die Schülerinnen und Schüler. Sie sollen idealerweise aus ihren Fehlern lernen und so ihre individuellen Lernhürden überwinden. Auch Schulbücher müssen dafür angepasst werden, um auf solche Konzeptwechsel besser einzugehen als bisher.
Stiftung: Können Sie das erläutern?
Reinhold: Ein Schulbuch sollte nicht nur sagen, ab jetzt funktioniert es so und so. Es muss vielmehr darlegen, warum und ab wann das früher Erlernte jetzt nicht mehr funktioniert. Die Verunsicherung ist ein großer Punkt. Was darf ich denn jetzt noch? Die Idee von Multiplizieren als wiederholtem Addieren funktioniert, wie wir schon gesehen haben, bei rationalen Zahlen dann nicht mehr, wenn die Faktoren keine natürlichen Zahlen sind. Man bildet bei Brüchen den Anteil eines Anteils – wie im Beispiel 1/3 mal 3/4. Genau das muss man verstehen.
Stiftung: Sie forschen, wie digitale Methoden bei Sechstklässlern ankommen. Aber ist es nicht so, dass Kinder und Jugendliche tendenziell alles gut finden, was sie per Smartphone oder Tablet machen können, und damit dann auch besser lernen?
Reinhold: Das Damoklesschwert bei digitalen Medien ist der motivationale Neuheitseffekt, also ein kurzfristiger „Schub“, weil ich mich mit etwas Neuem und Interessantem auseinandersetze – aber den wollen wir gerade nicht! Unser Ziel ist vielmehr eine Veränderung der kognitiven Lernprozesse durch eine Veränderung des Unterrichtsangebots.
Stiftung: Wie wollen Sie das genau erreichen?
Reinhold: Unsere digitale Lernumgebung, die in einem früheren Projekt der Technischen Universität München entwickelt wurde, ist adaptiv und flexibel. Sie hat einen lernpsychologischen sowie fachdidaktischen Hintergrund und setzt auf drei Prinzipien. Erstens: Die Schülerinnen und Schüler werden mit Neuem erst dann konfrontiert, wenn sie das vorherige Themengebiet verstanden haben; sie werden dabei weder über- noch unterfordert. Zweitens erhalten sie Feedback, das mehr als „richtig“ oder „falsch“ ist – es greift die individuellen Schülerlösungen auf oder modelliert den korrekten Lösungsweg vor. Der dritte Punkt ist der intuitive und interaktive Umgang mit dem Lernmaterial, wobei sichergestellt ist, dass die fachlich komplexen Inhalte so anschaulich wie möglich vermittelt werden und sich die Schülerinnen und Schüler aktiv damit auseinandersetzen müssen.
Stiftung: Wie sind Sie konkret vorgegangen?
Reinhold: Wir haben in einer Unterrichtsstunde zum Bruchrechnen das Lernverhalten zweier Gruppen von insgesamt 300 Schülerinnen und Schülern verglichen. Die eine nutzte unsere anpassungsfähige digitale Lernumgebung zum Üben, die andere eine gleichwertige nicht-adaptive Lernumgebung auf Papierbasis, um dieselben Aufgaben zu lösen.
Stiftung: Was haben Sie herausgefunden?
Reinhold: Es lassen sich sechs Schülerprofile mit unterschiedlichem Verhalten und kognitivem Engagement erstellen. Darunter befinden sind beispielsweise die von uns „Accelerated Experts“ genannten, die am iPad sehr gewissenhaft arbeiten. Durch das digitale Tool erreichen sie sehr schnell diejenigen Rechenkenntnisse, die sie auch beherrschen sollen – und zwar ohne Unterforderung. Im direkten Vergleich hatten wir Schülerinnen und Schüler, die sich durch den nicht-adaptiven Papierstapel arbeiteten. Sie lösten in derselben Zeit weniger schwierige Aufgaben, weil sie den für sie „langweiligen Kram“ nicht überspringen konnten; sie wurden also ausgebremst.
Stiftung: Handelt es sich bei den Accelerated Experts nicht um die sowieso guten Schüler?
Reinhold: Ja, und es gibt auch ein weiteres Manko: Eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern verwendet die digitale Lernumgebung in einer Form, wie wir sie auf keinen Fall wollen. Sie klicken einfach wild irgendwelche Knöpfe; wir haben das Problem „Gaming the System“ genannt. Wir verlieren sie also mit den digitalen Tools. Dieses Problem würde es mit der klassischen papierbasierten Lernumgebung nicht geben, weil die Schülerinnen und Schüler – wie sie es grundsätzlich in der Schule gewohnt sind – ein paar Aufgaben rechnen und keinen Papierflieger daraus basteln würden. Hier wirkt sich der Neuheitseffekt beim digitalen Lernen negativ aus.
Stiftung: Was lässt sich daraus ableiten?
Reinhold: Etwa 45 Prozent der Schülerinnen und Schüler profitiert von der adaptiven Lernumgebung am iPad durch bessere Lernerfolge – so lauteten auch unsere Hypothesen. Für rund 40 Prozent spielt der Modus der Vermittlung keine wesentliche Rolle. Und für 15 Prozent der Lernenden zeigen sich negative Effekte, das ist eine zu große Zahl.
Stiftung: Das Problem liegt also vor allem bei den schlechteren Schülern?
Reinhold: Genau, aber wir wollen ja insbesondere die untere Leistungshälfte stärken – die laut unserer Studie aber bei den digitalen Methoden abrutscht. Digitale Tools funktionieren also nicht per se, sondern nur dann, wenn sie von den Schülerinnen und Schülern richtig genutzt werden. Deshalb wollen wir weitere Studien durchführen, die langfristig angelegt sind.
Stiftung: Welche Rolle spielt die Bildungspolitik in Bezug auf Ihre Forschungsergebnisse?
Reinhold: In Baden-Württemberg stehen wir zwar in regem Austausch mit den Kollegen der Bildungspolitik und der weitergehenden MINT-Bereiche. Tatsächlich sind die Prozesse innerhalb des Bildungssystems aber langwierig. Es dauert Jahre, bis beschlossene Neuerungen bei den Schülerinnen und Schülern ankommen können. Da sind andere Länder schneller.
Stiftung: Sie sind interdisziplinär unterwegs und arbeiten an der Schnittstelle von Fachdidaktik und lernpsychologischer Forschung. Welcher Bereich profitiert am meisten von Ihren Erkenntnissen?
Reinhold: Ganz klar die Didaktik der Mathematik, wo es darum geht, die Curricula bzw. Schulmaterialen auszuarbeiten. Und dann natürlich die empirische Forschung zum Einsatz digitaler Medien: Für die Medienpsychologen sind vor allem die Effekte des Nutzungsverhaltens interessant. Aber letztlich ist immer ein interdisziplinärer Austausch notwendig, damit die Umsetzung im Klassenzimmer gelingt und die Schülerinnen und Schüler mehr Interesse an Mathematik bekommen und das Fach besser erlernen.
Stiftung: Was bedeutet die Förderung der Daimler und Benz Stiftung für Ihre Forschung?
Reinhold: Für mich war es von unschätzbarem Wert, durch die Förderung mittel- und langfristig planen zu können. Darüber hinaus habe ich von der Freiheit profitiert, die Mittel ohne Vorgaben ganz im Sinne meiner Forschung einsetzen zu können.
Stiftung: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Reinhold: Ich wünsche mir mehr echte Zusammenarbeit zwischen den Lehrkräften, etwa in der Unterrichtsvorbereitung. Nicht jeder Lehrer oder Lehrerin muss denselben Stoff vorbereiten, sondern könnte von Materialien profitieren, die sich bewährt haben. Außerdem wünsche ich mir Unterrichtskonzepte, die aufeinander aufbauen, dazu mehr Offenheit für neue Formate und nicht zuletzt einheitliche und vor allem didaktisch hochwertige Unterrichtsmaterialien. Dafür wäre eine abgestimmte Kooperation aller Protagonisten unerlässlich: von den einzelnen Lehrkräften und den Schulen über die bundesweite Bildungspolitik bis hin zu den Schulbuchverlagen – insbesondere unter Einbezug der Wissenschaft.
Stipendienprogramm für Postdoktoranden und Juniorprofessoren
Die Daimler und Benz Stiftung vergibt jedes Jahr zwölf Stipendien an ausgewählte Postdoktoranden mit Leitungsfunktion und Juniorprofessoren. Ziel ist, die Autonomie und Kreativität der nächsten Wissenschaftlergeneration zu stärken und den engagierten Forschern den Berufsweg während der produktiven Phase nach ihrer Promotion zu ebnen. Die Fördersumme in Höhe von 40.000 Euro pro Stipendium steht für die Dauer von zwei Jahren bereit und kann zur Finanzierung wissenschaftlicher Hilfskräfte, technischer Ausrüstung, Forschungsreisen oder zur Teilnahme an Tagungen frei und flexibel verwendet werden. Durch regelmäßige Treffen der jungen Wissenschaftler dieses stetig wachsenden Stipendiatennetzwerks fördert die Daimler und Benz Stiftung zugleich den interdisziplinären Gedankenaustausch.
Daimler und Benz Stiftung
Die Daimler und Benz Stiftung fördert Wissenschaft und Forschung. Dazu richtet sie innovative und interdisziplinäre Forschungsformate ein. Ein besonderes Augenmerk legt die Stiftung durch ein Stipendienprogramm für Postdoktoranden sowie die Vergabe des Bertha-Benz-Preises auf die Förderung junger Wissenschaftler. Mehrere Vortragsreihen sollen die öffentliche Sichtbarkeit von Wissenschaft stärken und deren Bedeutung für unsere Gesellschaft betonen.
Weitere Informationen:
https://www.daimler-benz-stiftung.de
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