Wenn Statistik zum Politikum wird: Wie unbegründete Manipulationsvorwürfe der Demokratie schaden
Statistiken sind die Grundlage wichtiger Entscheidungen in Politik und Wirtschaft. Wenn ihnen ohne Beweise Manipulation vorgeworfen wird, gerät mehr ins Wanken als nur Zahlenreihen. Zwei aktuelle Fälle zeigen, wie leichtfertig in Deutschland mit Vorwürfen gegen das Statistische Bundesamt umgegangen wird – und warum Sachlichkeit jetzt wichtiger ist denn je.
Wem nicht gefällt, was Zahlen zeigen, der kann die Zahlen ändern – oder die Statistikerin feuern. So geschehen in den USA: Anfang August hat US-Präsident Trump die Leiterin des Bureau of Labor Statistics (BLS), Erika McEntarfer, entlassen, weil ihm die jüngsten Arbeitsmarktdaten nicht gefielen. Trump sprach gar von „Fälschung“. Seine Begründung: Die Arbeitsmarktzahlen wurden mehrfach revidiert.
Die Opposition warf dem Präsidenten autokratisches Gebaren vor. Viele sehen die Integrität der Statistikbehörde bedroht. Es geht um Neutralität, Methodenkompetenz und politische Unabhängigkeit der amtlichen Statistik.
Statistische Behörden müssen unabhängig bleiben
Können statistische Indikatoren, die politisches Gewicht haben, unpolitisch sein? Sie können es nicht nur, sie müssen es sogar! Doch vor allem dann, wenn größere Revisionen durchgeführt wurden, sei es aufgrund von geänderten methodischen Standards oder infolge verbesserter Daten, steht dieses Spannungsverhältnis zwischen politischer Relevanz und faktischer Neutralität regelmäßig auf dem Prüfstand – eine große Herausforderung an die Statistik zur transparenten Kommunikation, ebenso aber auch an die Nutzer zur sachlichen Kritik.
Die Vorgehensweise der US-Administration gegenüber dem BLS ist ein Beispiel dafür, wie mit ungerechtfertigten Unterstellungen und Vorwürfen der Manipulation essenzielles Vertrauen zerstört wird. Damit wird nachhaltiger Schaden angerichtet, der wichtigen Entscheidungen in Politik und Wirtschaft und dem öffentlichen Diskurs die Evidenzbasis entzieht.
Leider sind wir auch in Deutschland nicht mehr sicher vor faktenfreiem Manipulationsgeschrei, das gezielt die Glaubwürdigkeit der amtlichen Statistik untergraben soll. Zwei aktuelle Fälle dürfen zum Schutz unserer Demokratie nicht unwidersprochen bleiben.
Fall 1: der angebliche BIP-Rechenfehler
Der Medienunternehmer Gabor Steingart hat dem Statistischen Bundesamt in einem Meinungsbeitrag auf Focus Online vorgeworfen, sich beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) „verrechnet“ zu haben. Das würden nachträgliche Korrekturen des BIP für die Jahre 2023 und 2024 beweisen. Sein Fazit: „Die Statistiker betrügen nur uns, aber nicht sich selbst.“
Unstatistik-Autorin Katharina Schüller hat in einem offenen Brief auf Steingarts Beitrag reagiert. Darin korrigiert sie zahlreiche Fehler und Fehlinterpretationen, die Herrn Steingart in seinem Meinungsbeitrag unterlaufen sind. So wird das BIP (wie auch die US-amerikanischen Arbeitsmarktzahlen) regelmäßig revidiert – das ist nichts Ungewöhnliches und nach den internationalen Vorgaben des System of National Accounts (SNA) und den rechtsverbindlichen Regeln des Europäischen Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG) sogar notwendig. Besonders pikant an der Sache: Das Statistische Bundesamt hat in seinen Pressemitteilungen zwischen November 2021 und Februar 2024 regelmäßig auf zu erwartende, größere Revisionen hingewiesen: „Die aktuellen Ergebnisse des BIP sind zudem weiterhin mit größeren Unsicherheiten als sonst üblich behaftet. Dies gilt insbesondere für die preis-, saison- und kalenderbereinigten Quartalswerte.“ Wie man von den jüngsten Revisionen überrascht sein kann, ist daher kaum nachzuvollziehen.
Fall 2: die verschwundenen Armen
Das Statistische Bundesamt hat die Methode zur Berechnung der Armutsgefährdungsquote geändert. Statt des MZ-Kern (Mikrozensus Kernprogramm) verwendet es nun den MZ-SILC (Statistics of Income and Living Conditions), um die europäische Vergleichbarkeit zu verbessern. Darüber hat das Amt seine Nutzer auch transparent informiert. Die bisherigen Berechnungen wurden archiviert.
MZ-SILC ist speziell auf EU-Vergleiche zugeschnitten und erfasst insbesondere Einkommen besser, die nicht aus der Erwerbsarbeit stammen – etwa Kindergeld, BAföG, Pflege- oder Wohngeld. Außerdem wird das genaue Einkommen in Euro erfragt und nicht nur das Einkommen nach groben Klassen, sodass insgesamt verlässlichere Daten zur Verfügung stehen als bisher. Die geringere Stichprobengröße führt allerdings dazu, dass Analysen der Armutsgefährdungsgrößen im MZ-SILC nach sozioökonomischen Charakteristika nur mit einer größeren Unsicherheit möglich sind.
30 Armutsforscher haben nun in einem Protestbrief gefordert, die Berechnung der Armutsgefährdungsquote auf Basis von MZ-Kern fortzuführen. Das Vorgehen des Statistischen Bundesamts sei „denkbar unwissenschaftlich“ und es grenze „bereits an behördliche Willkür, wenn ein Bundesamt Ergebnisse von allgemeinem wissenschaftlichem und öffentlichem Interesse zurückhält und damit die gesamte Fachdiskussion und öffentliche Rezeption beschnitten werden. Oder in eine bestimmte Richtung gelenkt werden sollen?“ Es könne doch nicht sein, dass durch die Umstellung über Nacht eine Million armutsgefährdete Menschen verschwunden sind.
Das sind sie auch nicht. Sie haben höchstwahrscheinlich niemals existiert, sondern waren das Ergebnis von Messfehlern durch die weniger präzise und systematisch verzerrte Erfassung im MZ-Kern.
Am Rande bemerkt: Über die Interpretation der Armutsgefährdungsquote kann man sich lange streiten. Wir haben im Rahmen der Unstatistik mehrfach darauf hingewiesen, dass dieser Indikator mit „Armut“ im allgemeinen Verständnis wenig zu tun hat. Um ein umfassenderes Bild des Phänomens „Armut“ zu ermöglichen, veröffentlicht deshalb das Statistische Bundesamt auch den EU-weit vergleichbaren Indikator AROPE, der berücksichtigt, was Personen sich tatsächlich leisten und inwieweit Personen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.
Viel Lärm um nichts
Nur in einem kleinen Nebensatz des Protestbriefs, der den meisten Medien entgangen ist, wird deutlich, was die Unterzeichner tatsächlich bemängeln: Das Statistische Bundesamt berechnet eine bestimmte Variante der Armutsgefährdungsquote nicht mehr. Die Daten des MZ-Kern existieren weiterhin und daraus werden nach wie vor umfassende, regional und soziodemografisch detaillierte Armutsgefährdungsquoten berechnet und veröffentlicht.
Der einzige Unterschied: Die Armutsgefährdung orientiert sich jetzt am Medianeinkommen des jeweiligen Bundeslandes statt am Bundesmedian. Das bedeutet, dass Menschen in Thüringen nun nicht mehr mit einem bundesweiten Mittelwert verglichen werden, in den auch hohe Einkommen aus dem Münchner Umland mit einfließen. Man kann diese Änderung so auffassen, dass sie einen wenig aussagekräftigen statistischen Durchschnitt zugunsten einer differenzierteren Betrachtungsweise aufgibt und damit die unterschiedlichen Lebensrealitäten in Deutschland besser abbildet. Auf das Problem der Verwendung des Bundesmedian zur Berechnung von Armutsquoten haben wir bereits in unserer allerersten Unstatistik im Jahr 2012 hingewiesen.
Fakten statt Fake News: wissenschaftliche Freiheit ist nicht eingeschränkt
Mit gutem Grund veröffentlicht das Bundesamt nur eine „amtliche“ Armutsgefährdungsquote. Alle anderen Daten stehen der Forschung weiterhin zur Verfügung – wenn auch mit einer Verzögerung von zwei bis drei Jahren. Jeder Wissenschaftler kann über das Forschungsdatenzentrum des Statistischen Bundesamts Zugang beantragen und eigene Analysen durchführen.
Sogar aus den veröffentlichten Statistiken könnte ein erfahrener Armutsforscher die Armutsgefährdungsquote nach dem Bundesmedian leicht selbst berechnen. Die Unterzeichner des Protestbriefs scheinen dazu jedoch nicht in der Lage – oder nicht willens – zu sein.
Der Vorwurf der „Unwissenschaftlichkeit“ oder einer „Einschränkung der wissenschaftlichen Freiheit“ ist daher schlicht falsch.
Vertrauen in Statistik ist die Grundlage einer funktionierenden Demokratie
Uns beunruhigt zutiefst, wie schnell, leichtfertig, und teilweise wider besseres Wissen inzwischen auch in Deutschland von „Manipulation“ und „politischer Einflussnahme“ geschrieben wird, wenn einigen Personen oder Institutionen eine von Statistischen Bundesamt veröffentlichte Zahl nicht passt. Noch bedenklicher: Einige Medien übernehmen diese vermeintlichen Skandale dankbar und oft unkritisch, ohne die politischen oder wirtschaftlichen Absichten der Urheber zu hinterfragen. Dadurch untergraben sie das Vertrauen in eine bedeutende demokratische Institution.
Das Bundesstatistikgesetz (BstatG), § 1, stellt unmissverständlich klar: „Für sie [die amtliche Statistik] gelten die Grundsätze der Neutralität, Objektivität und fachlichen Unabhängigkeit.“ Als Mitglieder der „Kommission Zukunft Statistik“ (Bauer, Radermacher, Schüller) und langjähriger Vorsitzender des Statistischen Beirats (Bauer) haben wir das Statistische Bundesamt stets als fachlich unabhängig von jeder politischen Weisung erlebt. Das scheint aber nicht mehr zu reichen. Um die Unabhängigkeit für die Zukunft zu sichern, sollte dem Statistischen Bundesamt endlich eine Rechtsstellung ähnlich der des Bundesrechnungshofes gegeben werden.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dr. Katharina Schüller (STAT-UP), Tel.: (089) 34077-447
Prof. Dr. Thomas Bauer (RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung), Tel.: (0201) 8149-264, thomas.bauer@rwi-essen.de
Prof. Dr. Walter J. Radermacher (Statistiker, Präsident des Statistischen Bundesamtes a. D. und ehemaliger Generaldirektor von Eurostat), Walter.Radermacher@stat.uni-muenchen.de
Originalpublikation:
https://www.rwi-essen.de/presse/wissenschaftskommunikation/pressemitteilungen/detail/wenn-statistik-zum-politikum-wird-wie-unbegruendete-manipulationsvorwuerfe-der-demokratie-schaden
Weitere Informationen:
https://www.rwi-essen.de/presse/wissenschaftskommunikation/unstatistik
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