Gehirn-Organoide geben neue Einblicke in seltene Hirnentwicklungsstörung LIS1 – Lissencephalie
Forschende des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim haben gemeinsam mit internationalen Partnern erstmals patientenabgeleitete Gehirn-Organoide entwickelt, um die seltene genetische Erkrankung LIS1 – Lissencephalie besser zu verstehen. Die Studie zeigt, wie genetische Veränderungen die Zellstruktur und Proteinfunktion stören und damit unterschiedliche Krankheitsverläufe verursachen. Erste Laborergebnisse deuten darauf hin, dass bereits verfügbare Medikamente helfen könnten.
Kinder mit LIS1 – Lissencephalie werden mit einem Gehirn geboren, bei dem die typischen Furchen und Windungen stark vermindert sind oder ganz fehlen. Diese seltene genetische Erkrankung führt zu schweren Entwicklungsstörungen, epileptischen Anfällen und einer eingeschränkten Lebenserwartung. Für die betroffenen Familien bedeutet die Diagnose oft große Unsicherheit, denn bislang sind die Ursachen und Verläufe der Erkrankung nur unzureichend verstanden.
Organoid gibt Einblick in Krankheitsverlauf
Einem internationalen Forschungsteam unter Federführung des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim ist es nun gelungen, ein Modell für die Erkrankung in Form von sogenannten Gehirn-Organoiden – im Labor gezüchtetes menschliches Gehirngewebe – zu entwickeln, um neue Einblicke in die Entstehung von LIS1 – Lissencephalie zu erhalten. Das Team um ZI-Forscherin Dr. Julia Ladewig nutzte Stammzellen von LIS1-Patientinnen und -Patienten, um im Labor dreidimensionale Gehirn-Organoide zu erzeugen, die die frühe Entwicklung der Großhirnrinde nachbilden. So konnten die Forschenden erstmals nachvollziehen, warum Mutationen im LIS1-Gen unterschiedlich starke Krankheitsverläufe verursachen.
Zellen behalten ihre Form und Stabilität durch ein inneres Gerüst, das Zytoskelett. Eines seiner wesentlichen Bestandteile sind sogenannte Mikrotubuli, winzige röhrenförmige Strukturen im Inneren der Zelle. Die aktuelle Studie zeigt, dass die genetischen Veränderungen bei LIS1 die innere Stützstruktur der Zellen, die Mikrotubuli, destabilisieren. Dadurch wird die Organisation und Teilung von Nervenvorläuferzellen gestört. Diese Störungen können dazu führen, dass die Zellschichten der Großhirnrinde unregelmäßig angelegt werden – ein zentrales Merkmal der Erkrankung.
Veränderungen auf molekularer Ebene erfassen
Das internationale Forscherteam führte Einzelzell-RNA-Sequenzierunsanalysen durch. Diese Methode bildet die Genexpression in tausenden von einzelnen Zellen ab. Das Wissen, welche Gene in einzelnen Zellen aktiv sind, kombinierten die Forschenden mit Daten zum Proteom, also der Gesamtheit aller Proteine in den jeweiligen Zellen. So konnten sie die krankheitsbedingten Veränderungen auf verschiedenen molekularen Ebenen erfassen.
Dieser Ansatz zeigte, dass zusätzlich zu den Veränderungen im Aufbau des Zytoskeletts die Zellproteine bei der Erkrankung unter Stress geraten und ihre normale Faltung nicht mehr aufrechterhalten können – ein Prozess, der als Proteostase-Dysregulation bezeichnet wird. Dieser Mechanismus könnte ein gemeinsamer Faktor vieler neuroentwicklungsbedingter Störungen sein. „Die Proteom-Analysen haben uns geholfen, die funktionellen Folgen der Genveränderungen besser zu verstehen und molekulare Schwachstellen zu identifizieren“, erklärt Dr. Matteo Gasparotto, Forscher am Hector Institut für Translationale Hirnforschung (HITBR) am ZI und einer der Erstautoren der Studie.
Verfügbare Medikamente könnten helfen
Das Team suchte anschließend nach bekannten Wirkstoffen, die diese gestörten Signalwege beeinflussen. Dabei zeigte sich, dass unter anderem das bereits klinisch zugelassene Medikament Everolimus in den Organoiden eine teilweise Wiederherstellung der zellulären Balance erzielen konnte. „Das ist ein spannender Hinweis darauf, dass bereits verfügbare Medikamente auch bei seltenen Entwicklungsstörungen helfen könnten“, sagt Dr. Lea Zillich, Forscherin am HITBR und Erstautorin der Studie.
„Unsere Organoid-Modelle erlauben es uns, die Krankheit in einem sehr frühen Stadium auf zellulärer Ebene zu beobachten und die Effekte verschiedener Mutationen direkt zu vergleichen“, erklärt Dr. Julia Ladewig, Leiterin der Arbeitsgruppe Entwicklungsassoziierte Erkrankungen des Gehirns am ZI und Letztautorin der Studie. „Das hilft uns zu verstehen, warum manche Kinder schwerer betroffen sind als andere“, ergänzt sie.
Beitrag zur Reduktion von Tierversuchen
Die Forschenden betonen, dass die Nutzung der Organoid-Technologie auch dazu beitragen kann, Tierversuche zu reduzieren, da sie ermöglicht, Prozesse der menschlichen Gehirnentwicklung direkt in der Zellkulturschale zu untersuchen und die Wirksamkeit von Medikamenten zu testen.
Die Arbeit entstand in enger Zusammenarbeit mit internationalen Partnern und wurde in der Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht. Sie unterstreicht, wie patientenabgeleitete Organoide helfen können, individuelle Krankheitsverläufe zu verstehen und personalisierte Therapieansätze zu entwickeln.
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Über das ZI
Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) steht für international herausragende Forschung und wegweisende Behandlungskonzepte in Psychiatrie und Psychotherapie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Suchtmedizin. Die Kliniken des ZI gewährleisten die psychiatrische Versorgung der Mannheimer Bevölkerung. Psychisch kranke Menschen aller Altersstufen können am ZI auf fortschrittlichste, auf internationalem Wissensstand basierende Behandlungen vertrauen. Über psychische Erkrankungen aufzuklären, Verständnis für Betroffene zu schaffen und die Prävention zu stärken ist ein weiterer wichtiger Teil unserer Arbeit. In der psychiatrischen Forschung zählt das ZI zu den führenden Einrichtungen Europas und ist ein Standort des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit (dzpg.org). Das ZI ist institutionell mit der Universität Heidelberg über gemeinsam berufene Professorinnen und Professoren der Medizinischen Fakultät Mannheim verbunden und Mitglied der Health + Life Science Alliance Heidelberg Mannheim (health-life-sciences.de).
Über das HITBR
Das Hector Institut für Translationale Hirnforschung (HITBR) wurde als ein gemeinschaftliches Projekt des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI), des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) und der Hector Stiftung II gegründet. Ziel des HITBR ist die Identifizierung neuer molekularer und funktioneller Ansatzpunkte für die Therapie schwerer psychiatrischer Erkrankungen sowie von Gehirntumoren.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
Dr. Julia Ladewig
Hector Institut für Translationale Hirnforschung (HITBR)
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
E-Mail: julia.ladewig@zi-mannheim.de
Originalpublikation:
Zillich L. et al. (2025) Capturing disease severity in LIS1-lissencephaly reveals proteostasis dysregulation in patient-derived forebrain organoids. Nature Communications (2025). DOI: 10.1038/s41467-025-64980-0
Weitere Informationen:
https://www.nature.com/articles/s41467-025-64980-0
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