Gewalt gegen Frauen - Die unsichtbare Gefahr: Digitale Übergriffe
Dr. Petra Sußner, Rechtsprofessorin mit Schwerpunkt Geschlechterfragen an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, sieht strukturelle Ursachen für wachsende Bedrohung im Netz und setzt auf Prävention.
Berlin, 25. November 2025. Anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen mahnt die Rechtswissenschaftlerin Prof. Dr. Petra Sußner, Gastprofessorin für Recht mit Schwerpunkt Geschlechterfragen an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin), zu einem grundlegenden Umdenken im Umgang mit digitaler Gewalt. Die Expertin für Legal Gender Studies und Menschenrechte macht deutlich: Digitale Gewalt gegen Frauen ist kein Randphänomen – sie ist strukturell, tief verankert und zunehmend existenzbedrohend.
Gezielte Einschüchterung
„Digitale Gewalt ist ein Spiegel unserer gesellschaftlichen Verhältnisse“, sagt Sußner. Besonders Frauen seien betroffen von sexualisierter Hetze, Vergewaltigungsdrohungen oder der Verbreitung intimer Bilder. Diese Formen digitaler Gewalt zielten auf Einschüchterung, Kontrolle und auf die Verdrängung von Frauen aus öffentlichen Diskursräumen. „Bei digitaler Gewalt geht es auch darum, Frauen aus öffentlichen Räumen zu verdrängen und ihnen damit Sprechmacht und Stimme zu nehmen“, sagt Sußner.
Digitale und analoge Gewalt untrennbar verbunden
Sußner warnt vor einer gefährlichen Vereinfachung: Die Vorstellung, digitale und analoge Gewalt ließen sich sauber trennen, sei überholt. Phänomene wie Doxing, gemeint ist die Veröffentlichung privater Daten wie Adresse oder Arbeitsplatz, zeigten, wie schnell digitale Angriffe in physische Gefährdung übergehen können. „Einfach das Handy abschalten“ sei keine Lösung, sondern verkenne die strukturelle Dimension der Bedrohung.
Auch im häuslichen Umfeld spiele digitale Kontrolle eine wachsende Rolle. „Stalking 2.0“, etwa über Stalkerware auf Smartphones, ermögliche eine engmaschige Überwachung von Betroffenen. Manipulative Strategien wie Gaslighting, eine Form der psychischen Gewalt mit dem Ziel, Selbstzweifel zu verstärken, verschöben die Wahrnehmung von Realität und machten Frauen zusätzlich vulnerabel.
Wer ist besonders betroffen – und warum
Gefährdet seien vor allem Frauen, die öffentlich auftreten: Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen, Aktivistinnen, Influencerinnen. „Wir dürfen Gewalt gegen Frauen nicht eindimensional verstehen“, betont Sußner. Schwarze Frauen oder trans Frauen seien besonders häufig Angriffen ausgesetzt, weil rassistische und (hetero)sexistische Hasskommentare zusammenkämen. Auch soziale Ungleichheit verschärfe die Lage: „Ein Gerichtsverfahren oder eine strafbewerte Unterlassungserklärung muss man sich erst einmal leisten können.“
Anonym im Netz und aus dem eigenen Umfeld
Täter*innen blieben oft anonym, organisieren sich in rechtsextremen, misogynen oder incel-nahen (unfreiwillig Zölibatäre) Netzwerken, oder kommen aus dem nahen sozialen Umfeld. Die aktuelle Studie „Femizide in Deutschland“ der Universität Tübingen zeigt, dass digitale Gewalt häufig eine lange Vorgeschichte habe, verbunden mit analoger Gewalt. Behörden oder Arbeitgebende, die digitale Gewalt bagatellisieren, würden zur Vulnerabilität und Vereinzelung der Betroffenen beitragen. Zentral sei daher eine Perspektive auf Machtverhältnisse: „Die Trennlinie verläuft nicht zwischen ‚anonym‘ und ‚bekannt‘, sondern zwischen Macht und Ohnmacht“, betont die Rechtswissenschaftlerin.
Kollektiver Schutz statt individueller Last
Sußner fordert ein gesellschaftliches Bewusstsein für das Ausmaß der Bedrohung: „Es ist eine Gefahr für unsere Demokratie, wenn ein Großteil der Bevölkerung aus dem öffentlichen Raum verschwindet.“ Betroffene bräuchten Wissen – etwa über beweissichere Screenshots oder digitale Spurensicherung. Doch die Verantwortung dürfe nicht allein auf ihnen lasten. Behörden, Institutionen und Plattformen seien gefordert, Gewalt sichtbar zu machen und konsequent zu ahnden.
Wichtig seien starke Unterstützungsstrukturen. In Berlin nennt Sußner Organisationen wie Hate Aid, den Deutschen Juristinnenbund sowie lokale Initiativen wie Camino, das Frauenzentrum EWA oder die Queerbeauftragten der Bezirke. Alle Einrichtungen bräuchten dringend mehr Ressourcen.
Resilienz gegen digitale Gewalt
Ein Beispiel für akademisches Engagement zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit ist das HWR-Lehrforschungsprojekt „Resilienz zivilgesellschaftlicher Organisationen gegenüber digitaler Gewalt“, das Prof. Dr. Petra Sußner gemeinsam mit Prof. Dr. Mischa Hansel leitet. Der Sozialwissenschaftler forscht und lehrt zum Schwerpunkt Cyber- und Informationssicherheit an der HWR Berlin. Studierende des gehobenen Polizeivollzugsdienstes am Fachbereich Polizei und Sicherheitsmanagement erwerben in einem Vertiefungsseminar Kompetenzen zu technischen, juristischen und psychologischen Fragen, um im Einsatz adäquat auf Anzeigen oder Hilferufe reagieren zu können.
Ihre Studierenden begegnen dem Thema mit großem Interesse und Engagement, erlebt Sußner. Sie hofft, dass diese neue Generation von Polizeikräften Spezialteams bei Polizei und Staatsanwaltschaft mit ihrer Kompetenz stützen wird und dazu beiträgt, das Thema breit zu verankern, Bewusstsein und Handlungsfähigkeit in Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden zu schaffen.
Prävention durch Machverschiebung
Während im Strafrecht weiterhin Lücken bestehen, etwa bei Deep Fakes oder voyeuristischen Aufnahmen in öffentlichen Räumen, weist Sußner darauf hin, dass es allein mit dem Erlassen neuer Strafvorschriften nicht getan sei. „Es geht um Prävention durch Machtverschiebung. Gewalt im Netz ist kein Einzelschicksal, sondern Teil eines Systems. Und sie ist kein Kavaliersdelikt.“
Sie fordert klare Verantwortlichkeit der Plattformen, eine konsequente Umsetzung des Digital Services Act und funktionierende Wege zur Identifikation anonymer Täter*innen. Technische Tools wie sichere Messenger oder Privacy-Einstellungen seien hilfreich, aber keine Lösung für ein strukturelles Problem. Zentral sei die Frage nach den Schutzpflichten des Staates: Wenn digitale Gewalt bestimmte Gruppen faktisch aus dem öffentlichen Raum verdränge, gefährde das die Meinungsfreiheit selbst.
Kollektives Bewusstsein für ein gesamtgesellschaftliches Problem
Sußners Fazit ist deutlich: Digitale Gewalt gegen Frauen ist ein Angriff auf Gleichberechtigung und demokratische Teilhabe. „Was es braucht, ist ein kollektives Bewusstsein. Das Anerkenntnis, dass digitale Gewalt ein gesamtgesellschaftliches Problem ist.“
Zum Interview mit Prof. Dr. Petra Sußner
https://www.hwr-berlin.de/aktuelles/neuigkeit/detail/digitale-gewalt-gegen-frauen-ist-kein-zufall
Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin
Die Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin) ist eine fachlich breit aufgestellte, international ausgerichtete Hochschule für angewandte Wissenschaften, einer der bundesweit größten staatlichen Anbieter für das duale Studium und im akademischen Weiterbildungsbereich. Sie sichert den Fachkräftebedarf in der Hauptstadtregion und darüber hinaus. Rund 12 500 Studierende sind in über 60 Studiengängen der Wirtschafts-, Verwaltungs-, Rechts-, Ingenieur- und Polizei- und Sicherheitswissenschaften sowie in internationalen Master- und MBA-Studiengängen eingeschrieben. Die HWR Berlin ist die viertgrößte Hochschule für den öffentlichen Dienst in Deutschland und mehrfach prämierte Gründungshochschule. Über 700 Kooperationen mit Partnern in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst garantieren den ausgeprägten Praxisbezug in Lehre und Forschung. 195 aktive Partnerschaften mit Universitäten auf allen Kontinenten fördern einen regen Studierendenaustausch und die internationale Forschungszusammenarbeit. Die HWR Berlin ist Mitglied im Hochschulverbund „UAS7 – Alliance for Excellence“ und unterstützt die Initiative der Hochschulrektorenkonferenz „Weltoffene Hochschulen – Gegen Fremdenfeindlichkeit“.
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