Musikalische Zeitreisen
Wie klang die Wiener Klassik um 1800? Und wie der Berliner Techno in den 1990er Jahren? Fachleute der TU Berlin rekonstruieren Musikerlebnisse vergangener Epochen
Wien an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Wenn Klassikfans auf Zeitreise gehen könnten, wäre das wahrscheinlich ein äußerst beliebtes Ziel. Schließlich hätte man dort die Chance, bei den Uraufführungen von Beethoven-Sinfonien und zahlreichen anderen bekannten Werken dabei zu sein. „Und so ein Erlebnis würde sich drastisch von allem unterscheiden, was heutige Klassik-Konzerte bieten“, sagt Prof. Stefan Weinzierl vom Fachgebiet Audiokommunikation der TU Berlin. Er und sein Team haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Musik-Ereignisse vergangener Epochen digital wiederauferstehen zu lassen.
Spurensuche in Wien
Das erfordert oft einiges an Detektiv-Arbeit. Wer hat welches Werk wann aufgeführt? An welchem Ort genau? Und vor welchem Publikum? Selbst für die gut erforschte Wiener Klassik war das nur lückenhaft bekannt. Also haben sich die Berliner Fachleute zusammen mit Kolleg*innen vom Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien auf Spurensuche begeben. Sie haben zeitgenössische Berichte aus Zeitungen, Musikzeitschriften und privaten Tagebüchern gesichtet, Radierungen und Stiche, Grundrisse und Baupläne von Konzertsälen analysiert. „Dabei sind wir auch auf Musikveranstaltungen gestoßen, von denen wir vorher gar nichts wussten“, berichtet Stefan Weinzierl.
Im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts „Das Konzertleben in Wien 1780–1830“ ist so eine Datenbank aller musikalischen Aufführungen entstanden, die damals in der europäischen Musik-Metropole stattgefunden haben. Neben Texten und historischen Bildern enthält diese auch 3D-Modelle der einzelnen Aufführungsräume. „Vor allem aber wollen wir einen Eindruck davon vermitteln, wie die Stücke in dieser Umgebung klangen“, erklärt der Forscher.
Genau das hörbar zu machen, ist eine Spezialität des Fachgebiets Audiokommunikation. Dazu gilt es zunächst, verschiedene Kennwerte für die Akustik der jeweiligen Räume zu messen oder zu rekonstruieren. Entscheidend für den Klang ist zum Beispiel, wie lange ein Ton auch nach seinem Verstummen noch zu hören ist. Diese sogenannte Nachhallzeit hängt von der Größe des Raumes, aber auch von seiner Ausstattung mit schallschluckenden Materialien ab. Historische Bilder, auf denen die Wände und Böden, die Stühle, Vorhänge oder Polster des Konzertsaals zu sehen sind, können dazu wichtige Indizien liefern. Per Computer lässt sich aus solchen Informationen die Akustik von Räumen modellieren – selbst wenn diese gar nicht mehr existieren. Moderne Verfahren können sogar simulieren, wie jedes beliebige Werk in dieser Umgebung klingen würde. Zum Einsatz kommt dabei eine Aufnahme, die in einem schalltoten Raum eingespielt wurde und die der Computer dann mit der Akustik des Aufführungssaals verrechnet.
Vergangene Erlebnisse
„Mit akustischen Werten können wir das eigentliche Musikerlebnis allerdings nur unvollständig erfassen“, betont Stefan Weinzierl. „Sie sind dafür einfach zu technisch.“ Wirkt das Gehörte erhaben? Kraftvoll? Melancholisch? So etwas können nur Menschen beantworten. Deshalb will das Team die rekonstruierten Klänge demnächst von Testpersonen anhören und beurteilen lassen.
Diese werden sich rasch davon überzeugen können, dass ein klassisches Konzert ursprünglich völlig anders klang als heute. Das liegt schon allein daran, dass die historischen Räume viel kleiner waren. Das Wiener Palais Lobkowitz, in dem Beethovens 3. Sinfonie uraufgeführt wurde, hat zum Beispiel ein Raumvolumen von 900 Kubikmetern, die heutige Berliner Philharmonie bringt es dagegen auf 26.000 Kubikmeter. Das aber hat enorme Auswirkungen auf die Akustik: Um auf eine ähnliche Lautstärke zu kommen wie die 35 Musiker im Palais müssten in der Philharmonie etwa tausend Kolleg*innen zum Instrument greifen. „Das Klischee behauptet ja, dass Musik im Laufe der Zeit immer lauter geworden sei“, sagt Stefan Weinzierl. „Dabei ist das Gegenteil der Fall: Heute erleben wir klassische Musik bei weitem nicht mehr so intensiv wie damals.“
Doch auch musikalische Erlebnisse, die längst nicht so weit zurückliegen, verschwinden nach und nach in der Erinnerung. Das gilt zum Beispiel für die Berliner Techno-Kultur der 1990er Jahre. „Immer mehr Clubs müssen aus wirtschaftlichen Gründen schließen oder sind schon verschwunden“, sagt Dr. Anita Jóri von der Leuphana Universität Lüneburg. „Und mit jedem geht ein Stück Musik- und Stadtgeschichte verloren.“ Denn die Techno-Club-Erfahrung ist eine äußerst individuelle Angelegenheit: Jeder Veranstaltungsort hat sein eigenes Ambiente, seinen eigenen Klang und sein eigenes Publikum. „Selbst wenn er später woanders wieder eröffnet, wird er nie mehr derselbe sein“, betont die Wissenschaftlerin. „Deshalb wollen wir diese Orte jetzt zumindest digital retten.“
Ein Archiv für Techno
Zusammen mit Dr. Steffen Lepa vom Fachgebiet Audiokommunikation der TU Berlin arbeitet sie an einem digitalen Berliner Techno Archiv, das sowohl der Forschung als auch der interessierten Öffentlichkeit offenstehen wird. Es soll nicht nur Flyer, LPs und Kassettenmitschnitte aus den analogen 1990er Jahren sammeln und digitalisieren. Ähnlich wie bei der Datenbank der Wiener Klassik wird es auch optische und akustische Rekonstruktionen der verschiedenen Clubs geben. „Die Leute können dann in die Atmosphäre der einzelnen Orte eintauchen und hören, wie ein bestimmter Track dort geklungen hat“, erklärt Steffen Lepa.
Mit dieser 2023 geborenen Idee haben Anita Jóri und er einen Wettbewerb des Konsortiums NFDI4Culture gewonnen, das sich in Deutschland mit der Sicherung von Forschungsdaten zu materiellen und immateriellen Kulturgütern befasst. „Wir haben uns sehr gefreut, dass wir dort eine musikwissenschaftliche Jury überzeugen konnten“, sagt Steffen Lepa. „Denn obwohl der Berliner Techno seit 2024 auf der Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO steht, war er lange nicht so richtig als Kulturgut anerkannt.“
Mit dem Preisgeld von 3000 Euro hat das Team die ersten Schritte auf dem Weg zum Berliner Techno Archiv finanziert. Ein Seminar mit Studierenden soll sich zunächst einmal mit den Fallstricken des ehrgeizigen Unterfangens beschäftigen und kreative Lösungen dafür finden. Zu klären ist zum Beispiel, welche Materialien überhaupt öffentlich gezeigt werden dürfen und welche nur unter bestimmten Voraussetzungen und Beschränkungen zugänglich gemacht werden können.
Rettung für Klänge
Derweil laufen auch schon die Arbeiten an den optischen und akustischen Simulationen. Dabei konzentriert sich das Team zunächst auf zwei bekannte und ganz unterschiedliche Schauplätze der Berliner Techno-Kultur: Das 1997 geschlossene „E-Werk“ in Mitte und die „Wilde Renate“ in Friedrichshain, die es nur noch bis Ende 2025 geben wird.
„Für das nicht mehr vorhandene E-Werk müssen wir erst einmal alle möglichen Details recherchieren“, erklärt Steffen Lepa. Welche Musikanlage war dort in Betrieb? Wo genau standen die Lautsprecher? Wie waren die Räume eingerichtet? Wenn das bekannt ist, lassen sich ähnlich wie im Projekt zur Wiener Klassik Nachhallzeiten und andere akustische Eigenschaften im Computer rekonstruieren.
Im Club „Renate“ dagegen wird das Team vor der Schließung noch Messungen vor Ort durchführen. Wenn der DJ ein Stück spielt, werden zum Beispiel 64 auf einer Kugel angebrachte Mikrophone die aus allen Richtungen kommenden Töne aufzeichnen. Alternativ können die Forscher*innen auch ein Testsignal verwenden und messen, was der Raum akustisch daraus macht. Aus diesen Informationen kann der Computer dann rekonstruieren, wie etwa ein historischer Track aus der Frühzeit der Techno-Geschichte in den riesigen Hallen des „E-Werks“ klang – und wie er sich im Vergleich dazu heute in den deutlich kleineren Räumen der „Renate“ anhört, die in einem ehemaligen Wohnhaus angesiedelt ist.
„Nach diesen beiden Fallbeispielen wollen wir später möglichst auch alle anderen Berliner Techno-Clubs in unser Archiv aufnehmen“, sagt Anita Jóri. Dazu wird das Team im nächsten Sommer ein größeres Projekt bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft beantragen. Für Steffen Lepa ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt, um mit einem solchen Vorhaben zu beginnen. Denn trotz des Welterbe-Titels der UNESCO geht das Verschwinden der Berliner Techno-Schauplätze weiter. Der Club „Jonny Knüppel“ zum Beispiel hat sich bereits gemeldet und ebenfalls um digitale Rettung seines Ambientes gebeten. Denn auch ihm droht noch in diesem Jahr die Schließung. „Das immaterielle kulturelle Erbe der Berliner Techno-Kultur hängt an ganz konkreten Orten“, sagt Steffen Lepa. „Wir wollen diese Erfahrung bewahren – für die Forschung und für die Menschen.“
Klangbeispiele:
Die Videosequenz zeigt die räumliche und akustische Rekonstruktion der historischen Aufführungsräume des Palais Auersperg. Der im frühen 18. Jahrhundert errichtete Adelssitz war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein bedeutender Ort gesellschaftlich hochrangiger musikalischer Veranstaltungen, unter anderem mit Werken von Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart. Zu hören ist der Beginn des Streichquartetts Nr. 14 „Der Tod und das Mädchen“ von Franz Schubert, eingespielt vom Streichquartett des Berliner Konzerthauses in einem reflexionsarmen Raum der TU Berlin und für die Akustik des Palais Auersperg akustisch simuliert: https://www.tu.berlin/go239617/n81679/
Der Gasthof „Zum Römischen Kaiser“ war im Winter 1813 Schauplatz der ersten öffentlichen Aufführungen von Streichquartetten Ludwig van Beethovens durch das Schuppanzigh-Quartett. Die Videosequenz zeigt die räumliche und akustische Rekonstruktion der damaligen Aufführungsräume. Zu hören ist ebenso der Beginn des Streichquartetts Nr. 14 von Franz Schubert, simuliert für die digital rekonstruierte Akustik des Gasthofs „Zum Römischen Kaiser“ in Wien: https://www.tu.berlin/go239617/n81679/
Weitere Informationen erteilen Ihnen gern:
Prof. Dr. Stefan Weinzierl
Fakultät I – Geistes- und Bildungswissenschaften
Institut für Sprache und Kommunikation
Fachgebiet Audiokommunikation
E-Mail: stefan.weinzierl@tu-berlin.de
Tel.: +49 (0)30 314-25359
https://www.tu.berlin/ak/ueber-uns/team/prof-dr-stefan-weinzierl
Dr. Steffen Lepa
Fakultät I – Geistes- und Bildungswissenschaften
Institut für Sprache und Kommunikation
Fachgebiet Audiokommunikation
E-Mail: steffen.lepa@tu-berlin.de
Tel.: +49 (0)30 314-29313
https://www.tu.berlin/ak/ueber-uns/team/dr-steffen-lepa
Die semantisch ähnlichsten Pressemitteilungen im idw