Wenn KI regionale Kürbiskerne empfiehlt statt importierter Kapern
Das Citizen-Science-Projekt „No kitchen is an island“ erforscht, wie Algorithmen eine nachhaltige Ernährung unterstützen können
Mit den Hugenotten kamen Zuckerrüben, Blumenkohl, Gurken und Kopfsalat nach Berlin. Die spanischen Konquistadoren brachten die Kartoffel aus Südamerika nach Europa. Und die Italienurlauber der BRD übten sich in dem Versuch, La Dolce Vita samt Cappuccino und Pasta nachzuleben und nachzukochen. „Essen und Esskulturen verbreiteten sich im vordigitalen Zeitalter durch Eroberungszüge, Entdeckungsreisen, Migration und Tourismus. Seit es das Internet gibt, ist es ein weiterer Faktor, der zudem bedeutender geworden ist als Tourismus und Migration. Denn mit der zunehmenden Hybridisierung aller Lebensbereiche verändert sich auch unsere Art, Essen zu entdecken: Im kulinarischen Tourismus zeigt sich, dass Reisen heute oft um Gerichte geplant werden, die die Menschen zuvor online gesehen haben und die sie nun während ihrer Reise probieren möchten und nicht mehr umgekehrt“, sagt die Wissenschaftlerin Alisa Goikhman. „Aber durch Algorithmen verbreiten sich kulinarische Traditionen nicht nur. Algorithmen quantifizieren und bewerten Essen, ohne dass Algorithmen überhaupt wissen, wie etwas schmeckt. Sie wählen aus, was Internetnutzer*innen zu sehen bekommen und gestalten so Vorlieben neu.“
Angleichung an einen globalen Trend
Dass Algorithmen mitbestimmen, was auf die Teller kommt, untersuchte Alisa Goikhman anhand der Verbreitung von levantinischem Essen in Deutschland. „Die Appetit- und Nachfragekurven für levantinische Gerichte wie den veganen Auberginendip Baba Ganoush, Falafel oder Shakshuka – die nicht zum Repertoire der in Deutschland etablierten türkischen Diaspora gehören – stiegen schon seit Jahren deutlich und steigen stetig an. Meine Auswertung von Google-Trends-Daten der vergangenen 20 Jahre zeigte eine klare Angleichung in Deutschland an einen globalen Trend, der sich nicht durch die bis zur Einwanderungswelle 2015/2016 lediglich sporadischen Migration aus dem Levante-Raum erklären lässt“, so Goikhman. Sie forscht derzeit am Fachgebiet „Bildung für Nachhaltige Ernährung und Lebensmittelwissenschaft“ der TU Berlin. Prof. Dr. Nina Langen leitet das Fachgebiet.
Ausgehend von der Tatsache, dass Algorithmen inzwischen die Beziehung zum Essen in großen Teilen bestimmen, untersucht Alisa Goikhman, wie sich diese Mensch-Maschine-Kollaboration nachhaltiger und innerhalb der planetaren Grenzen gestalten lässt. Denn die Frage sei, ob diese neue hybride Form der Konsumentscheidung das Potenzial für eine nachhaltige Ernährung hat.
Um dies zu erforschen hat die Designerin im Rahmen eines öffentlichen experimentellen Brunchs während der Berlin Science Week 2025 ein Citizen-Science-Projekt gestartet und die Website https://nokitchenisanisland.com angelegt. Dort sind Gerichte zu finden – von der Gemüsesuppe über Shakshuka, Zucchinieintopf, Gurkensalat bis hin zum Käsekuchen und zum Sauerteigbrot. Ausgewählt hat sie Goikhman aus circa 50 Gerichten, nach denen deutsche Haushalte in den vergangenen fünf Jahren am häufigsten online suchten. Alisa Goikhman: „97 Prozent aller Klicks finden auf der ersten Google-Seite statt. Wer dort zum Beispiel nach einem Quiche-Rezept sucht, bekommt bis zu 14 unterschiedliche Varianten angezeigt – jene, die die Algorithmen als ‚am besten‘ einstuft. Aus diesen 14 Varianten wird auf meiner Website ein Rezept: Es ist also der Durchschnitt all dieser Varianten. So entsteht ein Rezept, das widerspiegelt, was in Deutschland tatsächlich als Quiche zubereitet und gegessen wird.“
Kompromiss zwischen Klimaanforderungen und menschlichen Vorlieben
Jede Rezeptseite auf https://nokitchenisanisland.com ist mit einer Kommentarspalte versehen. Nutzerinnen und Nutzer können dort die Rezepte diskutieren, Vorschläge für Veränderungen machen, Kritik üben, Nichtfunktionierendes benennen. Neben diesen menschlichen Kommentaren gibt es KI-generierte Kommentare, die auf aktuellen lokalen Klimaberichten basieren. Die Nutzer- und KI-Klimakommentare werden dann an OpenAI zurückgemeldet, das aus diesen Kommentaren ein neues Rezept zu dem jeweiligen Gericht erstellt. Das heißt, die neue Rezeptversion ist ein Kompromiss zwischen klimabezogenen Anforderungen und menschlichen Vorlieben. Zur Ausgangsversion des deutschen Gurkensalats zum Beispiel lautet der KI-Klimakommentar: „Angesichts der jüngsten Artikel über Wasser-, Boden- und Luftqualität würde ich dieses Rezept etwas abwandeln: Verwenden Sie Hafer- oder Sojajoghurt statt Sauerrahm, regionales kaltgepresstes Öl und Apfelessigreste. Ersetzen Sie importierte Kapern und Sesam durch eingelegte Kapuzinerkressesamen und Kürbiskerne aus der Region.“ Standen im Ausgangsrezept noch Sauerrahm, Zucker und natives Olivenöl auf der Zutatenliste, fehlen diese in der Version 2 und 3. Beim durchschnittlichen
Kimchi rahmt der KI-Kommentar das Gericht als eine „kleine Zusammenarbeit mit Mikroben“ und schlägt vor, die Fischsoße durch Miso zu ersetzen und statt des importierten Reismehls, von dem hierzulande fast eine ganze Packung ungenutzt in der Speisekammer liegen bleibt, übrig gebliebenen gekochten Reis für den Fermentationsbrei zu verwenden. Die menschlichen Kommentierenden, die das Kimchi während der Berlin Science Week gekostet hatten, äußerten wiederum, dass sie Kimchi zwar mögen, aber wenig Erfahrung damit haben. Das zeigt, so Goikhmann, dass kleine nachhaltige Anpassungen vermutlich gar nicht auffallen würden.
Was bislang im Verborgenen geschieht, wird sichtbar
Auf der Website können die Besucherinnen und Besucher beobachten, wie sich die Rezepte von ihren durchschnittlichen Ausgangsversionen zu den jeweils neuesten zwischen Mensch, Algorithmen und Natur ausgehandelten Varianten weiterentwickeln. „Was bislang im Verborgenen geschieht, der Einfluss von Algorithmen auf unsere Ernährung, das machen wir auf unserer Website sichtbar. Denn Online-Rezepte sind längst Produkte einer Aushandlung zwischen Mensch und Algorithmus.
Die Plattform untersucht, welche Form diese Aushandlung annehmen kann und, noch wichtiger, wie sie schmecken könnte. Dafür braucht es jedoch die Beteiligung der Öffentlichkeit. Die Plattform https://nokitchenisanisland.com ist deshalb für alle zugänglich, denn das Experiment entfaltet seinen Wert erst im Kontakt mit der Realität. „Ein Rezept bringt einen nur bis zu einem gewissen Punkt, wirklich verstehen lernt man ein Gericht erst, wenn man es selbst kocht“, betont Alisa Goikhman.
Ihre Forschungen sind eingebunden in das am Fachgebiet „Bildung für Nachhaltige Ernährung und Lebensmittelwissenschaft“ angesiedelte Projekt „DINER“. Ziel des Vorhabens es, ein innovatives, benutzerfreundliches und personalisiertes Empfehlungssystem zu entwickeln, das zu nachhaltigeren Ernährungsgewohnheiten anregen soll. Gefördert wird „DINER“ vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft.
Fotomaterial zum Download
https://www.tu.berlin/go239617/n81655/
Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
Alisa Goikhman
TU Berlin
Fakultät I Geistes- und Bildungswissenschaften
Fachgebiet Bildung für Nachhaltige Ernährung und Lebensmittelwissenschaft
E-Mail: alisa.goikhman@campus.tu-berlin.de
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