Studie zeigt Zusammenhang zwischen Unterrichtszeit für politische Bildung und der Zusammensetzung der Landesregierung
Politikverdruss, sinkendes Vertrauen in staatliche Institutionen, Wahlerfolge extrem rechter Parteien – diese und weitere Entwicklungen führen zu Forderungen, politische Bildung an Schulen auszubauen. Anhand eines neu geschaffenen Datensatzes kann erstmals die Entwicklung des Unterrichtsfachs Politik in den vergangenen Jahrzehnten nachgezeichnet werden. Es zeigt sich u.a. ein politischer Einfluss der Landesregierung auf den Politikunterricht, insb. bis Ende der 1990-er Jahre. War die SPD an einer Regierung beteiligt, wurde mehr politische Bildung unterrichtet. Regierte die CDU, war weniger politische Bildung vorgesehen. Besonders deutlich ist das für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Politikverdruss, sinkendes Vertrauen in staatliche Institutionen, Wahlerfolge extrem rechter Parteien – diese und weitere als demokratiegefährdend eingestufte Entwicklungen der letzten Jahre führen zu Forderungen, die politische Bildung an Schulen auszubauen. Dem Politikunterricht wird dabei eine Schlüsselfunktion bei der Stärkung demokratischen Verhaltens und Handelns zugeschrieben. Mithilfe von Daten aus historischen Stundentafeln konnten Forschende des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe (LIfBi) die Entwicklung des Unterrichtsfachs Politik in den vergangenen Jahrzehnten nachzeichnen. Dabei zeigt sich, dass fast durchgehend mehr politische Bildung an nicht-gymnasialen Schulformen im Vergleich zum Gymnasium vorgesehen war. Zudem lässt sich bis Ende der 1990-er Jahre ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Anzahl der Unterrichtsstunden in diesem Fach und der parteipolitischen Regierungskonstellation beobachten.
Um zu klären, welchen Stellenwert Politikunterricht an Schulen in Deutschland hat, schuf ein LIfBi-Forschungsteam (Dr. Norbert Sendzik, Ulrike Mehnert, Prof. Dr. Marcel Helbig) auf Basis von Stundentafeln einen neuen Datensatz. Dieser erfasst für alle westdeutschen Bundesländer seit 1949 bis 2019, wie viele Wochenstunden „Politik“ in der Sekundarstufe I, also von der 5. bis einschließlich 10. Klasse, in den verschiedenen Schulformen pro Schuljahr gelehrt werden sollten. Die Daten der ostdeutschen Bundesländer sind darin seit der Wiedervereinigung enthalten. Die Daten erlauben damit zum ersten Mal einen bildungshistorisch-quantitativen Blick auf die Entwicklung des Politikunterrichts von der Gründung der Bundesrepublik Deutschland bis in die Gegenwart.
Große Unterschiede zwischen den Ländern
Die Analysen zeigen, dass seit den 1970-er Jahren die Bedeutung des Politikunterrichts zunahm und sich die Unterrichtszeit für dieses Fach in allen Bundesländern und an allen Schularten bis zu den 1990-er Jahren nahezu verdoppelte. Dabei gab es große Bundeslandunterschiede. So wurde beispielsweise um die Jahrtausendwende das Fach Politik in Nordrhein-Westfalen mit 7 Wochenstunden gelehrt (also pro Schuljahr im Durchschnitt ca. 1,2 Wochenstunden), während es in Bayern und Sachsen nur 2 Wochenstunden waren (ca. 0,3 pro Schuljahr). Aber auch in der jüngeren Vergangenheit finden sich bundeslandspezifische Entwicklungen: So wurde in Hessen die Unterrichtszeit seit den 1990-er Jahren bis in die 2010-er Jahre von 7 auf 3 Wochenstunden mehr als halbiert, während sie in Schleswig-Holstein im selben Zeitraum von rund 1 auf fast 5 Wochenstunden anstiegen.
Mehr politische Bildung unter SPD-geführten Regierungen
In seltener Klarheit zeigt sich im neuen Datensatz zudem ein politischer Einfluss der Landesregierung auf den Politikunterricht, insbesondere für die 1970-er bis Ende der 1990-er Jahre, so Dr. Norbert Sendzik: „Je nach politischer Landesfarbe erhielten die Schülerinnen und Schüler unterschiedlich viel politische Bildung. War die SPD an einer Regierung beteiligt, wurde mehr politische Bildung unterrichtet. Regierte die CDU, war weniger politische Bildung vorgesehen. Besonders deutlich ist das für die ostdeutschen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, die nach der Wende christdemokratisch geprägt waren. Dort war im Vergleich sehr wenig politische Bildung vorgesehen.“ Seit den 2000-er Jahren ist politische Bildung jedoch weniger von der Zusammensetzung der Landesregierung geprägt.
Mehr politische Bildung an nicht-gymnasialen Schulformen
Die Daten zeigen nicht nur die unterschiedliche und politisch beeinflusste zeitliche Ausprägung des Politikunterrichts. So waren entgegen der landläufigen Vermutung in der Geschichte der Bundesrepublik in der Regel mehr Unterrichtsstunden „Politik“ an nicht-gymnasialen Schulformen im Vergleich zum Gymnasium vorgesehen. Der Befund war in der Form nicht zu erwarten, denn andere Forschung weist für die Gegenwart darauf hin, dass Gymnasiast:innen heutzutage mehr politische Bildung erhalten als Schüler:innen an anderen Schulformen.
Sendzik, Mehnert und Helbig mahnen weiteren Bedarf an zielgerichteter Forschung an, für die der neue Datensatz eine gute Grundlage bieten kann. Insbesondere der Entwicklung von der „Civic Literacy“, also zivilgesellschaftlichen und politischen Kompetenzen von Menschen, sollte dabei Aufmerksamkeit gewidmet werden. Mehr Wissen über die Auswirkungen politischer Bildung könne dann hoffentlich auch Antworten zum Umgang mit der aktuell zu beobachtenden politischen Polarisierung der deutschen Gesellschaft bieten.
Wissenschaftlicher Ansprechpartner:
https://www.lifbi.de/de-de/Start/Institut/Personen/Person/account/201?name=Helbig,Marcel Prof. Dr. Marcel Helbig
https://www.lifbi.de/de-de/Start/Institut/Personen/Person/account/1776?name=Sendzik,Norbert Dr. Norbert Sendzik
Originalpublikation:
Sendzik, N., Mehnert, U., & Helbig, M. (2024). Feuerwehr der Demokratie? Politische Bildung als Unterrichtsfach an allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 2019 (LIfBi Working Paper No. 114). Leibniz-Institut für Bildungsverläufe. https://doi.org/10.5157/LIfBi:WP114:1.0
Die Studie geht zurück auf das von der Leibniz-Gemeinschaft geförderten und am ifo-Institut sowie am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) angesiedelte Projekt „Effizienz und Chancengleichheit in der Bildung: Quasi-experimentelle Evidenz von Schulreformen der Bundesländer (EffEE)“ (Projektzeitraum: 2019 bis 2022). Die Studie wurde in Folge eines Institutswechsels der Studienautor:innen am Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi) fertiggestellt. Während der Umsetzung wurden die Autor:innen maßgeblich sowohl vom WZB als auch vom LIfBi unterstützt. Die Studie und die hier veröffentlichten Daten sind damit auch Ausdruck einer Kooperation von WZB und LIfBi.
Weitere Informationen:
https://www.lifbi.de/de-de/Start/Daten-Services/Daten-und-Dokumentation/HISPOL Datensatz und Dokumentation "Historie Politische Bildung"